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Wolkengaukler

Wolkengaukler

Titel: Wolkengaukler
Autoren: Anett Leunig
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optisch älter, reifer, nicht mehr so bubenhaft. Außerdem fand Christoph es unglaublich aufregend, wenn ich ihm während des Liebesspiels mit meiner jetzt rauen Wange über die Haut strich. Okay, dann sollte es so bleiben!
    Mein Französisch verbesserte sich mit jedem Tag, und ich entwickelte zur Sprache und zum Land eine intensive Zuneigung, besonders deshalb, weil ich diese beiden Dinge mit Celine und Christoph teilte. Ich genoss die Zeit mit ihm, kostete jeden Tag, jede Stunde mit ihm bis zur letzten Nanosekunde aus. Nach all der Anspannung, all den Ängsten und Zweifeln, die wir im letzten Jahr durchlebt hatten, war das wie Balsam für meine Seele.
    Abends standen wir beide oft eng aneinandergeschmiegt am Strand und beobachteten den Sonnenuntergang über dem golden funkelnden Meer, die bloßen Füße im noch warmen Sand vergraben, nackt bis auf eine Shorts, oder manchmal auch ganz ohne, den kräftigen Wind vom Atlantik im Gesicht und nichts als den Partner im Kopf. Das waren für mich die wunderbarsten Augenblicke, in denen ich mir wünschte, die Zeit möge jetzt einfach stehen bleiben und wir für immer darin gefangen sein.
     
    Doch die Zeit ließ sich auch in diesen glücklichen Wochen nicht beirren, schritt unaufhaltsam voran und trieb uns auf unserer Tour immer weiter. Schließlich war unsere Gauklerzeit vorbei, und wir waren auf dem Weg nach Brest. Je näher wir unserem Ziel kamen, umso aufgeregter wurde Christoph. Er hatte jetzt schon so lange gewartet, schien es aber plötzlich nicht mehr auszuhalten. Jeder Kilometer, den wir zurücklegten, schien seine Gedanken zu beflügeln
     Er erzählte mir auf der Fahrt sehr viel mehr von seiner Kindheit, fügte jetzt in das Portrait seiner Person all die fehlenden Puzzleteile ein, die ich noch vor einem Jahr auf unseren Streifzügen durch München vermisst hatte.
    Er sprach von der Freude, die er jedes Mal empfunden hatte, wenn sein Vater mit seiner Truppe in die Stadt kam, von der Aufregung, die es jedes Jahr gab, wenn er, statt zur Schule zu gehen, lieber auf dem Festplatz herumstromerte, mit den Männern dort scherzte, spielte und von ihnen die verschiedensten Dinge lernte: zum Beispiel schnitzen und drechseln, nähen, zeichnen, wie man Bier herstellte und Brot backte. Mit seinem Vater an seiner Seite bekam er von ihnen ein Gefühl für das Handwerk, für das Grundlegende, Urtümliche vermittelt. Hier entdeckte er seine Liebe zur Kunst, und hier entwickelte sich sein Interesse für statische Konstruktionen, angefangen beim Aufbauen der Zelte und Verkaufstände bis hin zum Entwurf kleiner Modelle von den verschiedensten Gebäuden, die sein Vater auf seinen Reisen gesehen und skizziert hatte oder ihm aus dem Gedächtnis beschrieb.
    Christoph mochte das Leben dieser fahrenden Spielleute und Künstler; dennoch bedeuteten die Zelte für ihn auch immer eine Art Unstetigkeit, Vergänglichkeit, Verletzlichkeit. Er wollte beides miteinander verbinden: die grenzenlose Vogelfreiheit seines Vaters mit der sicheren Geborgenheit des geregelten Alltags, den er von seiner Mutter kannte. So war er auf das Architekturstudium gekommen, bei dem es einerseits klare Strukturen, strenge Regeln und Formeln gab, an denen er sich orientieren und festhalten konnte, aber andererseits bei der Gestaltung eines Gebäudes auch genügend künstlerische Freiheit gegeben war, um dem Werk eine individuelle Note, eine ‚eigene Seele’ geben zu können.
    Er erzählte mir auch von dem Schmerz, den ihm jeder Abschied von seinem Vater bereitet hatte, von der Sehnsucht, die elf Monate lang an ihm nagte, besonders zu Weihnachten und zu seinem Geburtstag. An diesen Tagen war nur seine Mutter für ihn dagewesen. Sie musste ihm den Halt beider Elternteile vermitteln und konnte doch nur eins für ihn sein. Auch von der Wut auf seinen Vater erzählte er mir, die ihn in den späteren Jahren oft befallen hatte, als ihm bewusst wurde, wie sehr er seine Mutter damit überforderte, wenn er von ihr diese Kraft und Energie verlangte, die ihm eigentlich nur der Vater hätte geben können.
    Und schließlich schilderte er mir seine Irritation und Verzweiflung, als sein Vater plötzlich nicht mehr aufgetaucht war, sich nicht mehr meldete, und auch seine Mutter begann, sich ein Stück zurückzuziehen – fast unmerklich, aber er war sensibel genug, es zu spüren. Es war ein schmerzhaftes Erwachsenwerden gewesen, nicht sanft und allmählich wie bei den meisten Jugendlichen. Er hatte ganz plötzlich begriffen, dass er
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