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Wolkengaukler

Wolkengaukler

Titel: Wolkengaukler
Autoren: Anett Leunig
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eigentlich ganz allein dastand, selbst für alles verantwortlich war und im Zweifel auf niemanden zurückgreifen konnte – außer auf seine Mutter; doch die würde auch nicht für immer da sein. Die Sache mit Falk hatte dazu ein Übriges getan. Und dann war ich gekommen – und den Rest der Geschichte kannte ich ja.
    Nun waren wir hier, am anderen Ende von Christians Leben. Hier wollte Christoph versuchen, die Wunde in seiner Seele zu heilen, die offenen Fragen zu klären, den Kreis wieder zu schließen. Ich hoffte sehr, dass er das schaffte – und ich mit ihm.
     
    Wir trafen pünktlich zum Beginn des jährlichen Sommerfestes in der Stadt ein. Auf der großen Festwiese bauten gerade die ersten Schausteller ihre Zelte und Stände auf.
    Celine hatte ihre Mutter bereits auf Christophs Ankunft vorbereitet, und Madame Dubêre schien ähnlich wie Tante Melanie reagiert zu haben. Auch sie hatte von Christophs Existenz gewusst, jedoch nicht geahnt, dass ihre Tochter, die sie in den Norden Deutschlands geschickt hatte, im Süden des Landes ihren Bruder finden würde. Aber jetzt, da es nun einmal geschehen war, war sie mehr als bereit, uns freudig und offenherzig in ihr Haus aufzunehmen. Hatte Christian das damals bedacht, als er sich die Frauen aussuchte, mit denen er seine Kinder zeugen wollte? Hatte er überhaupt damit gerechnet, dass sich seine Kinder einmal finden würden? Und gab es noch mehr davon? Letzteres war wohl nicht der Fall, denn weder Christophs noch Celines Mutter wussten etwas darüber.
    Celine hatte aber noch eine Überraschung für uns. Sie war heute morgen besonders aufgeregt gewesen. Kurz bevor wir zum Fest aufbrechen wollten, klingelte es an der Tür.
    „C'est pour moi, Maman!“, rief sie in die Küche, dann ging sie öffnen. Ich spürte, wie sich Christoph neben mir aufrichtete und neugierig zur Tür schielte. Scheinbar unbeteiligt blätterte ich weiter im Programmheft des Marktfestes.
    „Salut, Jacques!“, hörten wir sie sagen, „Entre, dépêche-toi, ils sont déjà là!“
    Jacques? Wer war Jacques? Ihr Freund? Sie hatte nie etwas von einem Freund erzählt. Aber wir hatten sie auch nie direkt danach gefragt. Seit wann waren die beiden zusammen? Jetzt erst? Oder schon vor ihrem Jahr in Deutschland? Und wie tief ging diese Beziehung? War es wie bei uns? Celine hatte zwar gesagt, dass sie noch nie mit einem Jungen geschlafen hatte, was aber nicht heißen musste, dass sie solo gewesen war. Vielleicht waren die beiden einfach noch nicht soweit gewesen.
    Christoph gingen vermutlich dieselben Gedanken im Kopf herum wie mir. Ich beobachtete ihn, wie er betont langsam aufstand und sich anspannte. „Du bist ihr Bruder, nicht ihr Bodyguard“, mahnte ich ihn.
    „Das kann manchmal dasselbe sein“, antwortete er kurz angebunden.
    „Kann, muss aber nicht“, parierte ich. Er zuckte mit den Mundwinkeln zum Zeichen, dass er meine leise Kritik verstanden hatte und akzeptierte. Seine Schultern entspannten sich, und er zog die Hände wieder aus den Hosentaschen.
    „Schon besser“, flüsterte ich. während ich demonstrativ lässig eine Seite des Heftes umschlug. Lesen konnte ich allerdings nicht mehr, dazu war ich zu unkonzentriert. Celine kam wieder herein, hinter sich einen überraschend gut aussehenden, jungen Mann. Er war vielleicht in Christophs Alter, hatte eine schlanke, sportliche Figur mit gut trainierten Schultern. Aus einem offenen, fein geschnittenen Gesicht blickten uns zwei himmelblaue Augen an, deren sanfter und doch unglaublich intensiver Blick durch den schmalen, dunkleren Rand um die Iris noch verstärkt wurde. Sie schienen ständig sanft zu lächeln, genauso wie seine schmalen, schön geschwungenen Lippen. Das alles wurde eingerahmt von fast schwarzem, leicht gelocktem Haar, das sich verspielt auf seiner Stirn kringelte. Alles in allem eine beachtliche, aufregend geheimnisvolle Erscheinung, die Ruhe und Sicherheit ausstrahlte, Kühle für ein überhitztes Gemüt, Wärme für eine fröstelnde Seele.
    Die beiden Männer musterten sich wie zwei Rivalen, die an derselben Frau interessiert waren – jedoch jeder aus anderen Gründen. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, während Christophs Diamantaugen in Jacques’ Meeresblau eintauchten. Ich wusste, dass er in diesem Moment bis hinab auf den Grund von Jacques’ Seele zu gleiten versuchte.
    Celine biss sich nervös auf die Unterlippe, und auch ich befürchtete einen Moment lang, dass Christoph Schwierig-keiten mit Jacques haben könnte. Doch
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