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Der zweite Mord

Der zweite Mord

Titel: Der zweite Mord
Autoren: Helene Tursten
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KAPITEL 1
    Die Nachtschwester Siv Persson war gerade auf den Gang getreten, als das Licht erlosch. Die Straßenlaternen warfen einen so schwachen Schein durch die hohen Fenster, dass man sich nur mit Mühe zurechtfinden konnte. Es schien nur im Krankenhaus dunkel geworden zu sein.
    Die Schwester blieb wie angewurzelt stehen und sagte in das Dunkel hinein:
    »Meine Taschenlampe.«
    Sie tastete sich zurück ins Schwesternzimmer. Mithilfe des spärlichen Lichts der Straßenbeleuchtung kam sie bis zum Schreibtisch und ließ sich auf den Stuhl sinken.
    Als auf der kleinen Intensivstation der Alarm des Beatmungsgeräts zu schrillen begann, schreckte sie auf. Das Geräusch wurde von der geschlossenen Flügeltür am Ende des Korridors gedämpft, die zwischen Station und Intensivstation lag. Trotz der stabilen Türen war der Alarm in der Stille ohrenbetäubend.
    Von ihrem Platz im Schwesternzimmer konnte die Nachtschwester die Tür sehen, die vom Treppenhaus auf die Station führte. Gewohnheitsmäßig warf sie einen Blick über den Korridor. Dann schrie sie auf.
    Auf der anderen Seite der Glastür war ein dunkler Schatten aufgetaucht. Dann wurde die Tür aufgerissen.
    »Ich bin’s nur!«
    Die Stimme des Arztes brachte sie zum Verstummen. Sie stand auf.
    Wortlos rannte der Arzt durch den Korridor weiter auf die Tür der Intensivstation zu. Die Schwester folgte ihm und orientierte sich im Dunkeln an seinem wehenden weißen Kittel.
    Auf der Intensivstation war der Alarm unerträglich schrill.
    »Schwester Marianne! Stellen Sie den Alarm ab!«, schrie der Arzt.
    Die Nachtschwester auf der Intensivstation antwortete nicht.
    »Schwester Siv! Holen Sie eine Lampe!«
    Mit schwacher Stimme sagte Schwester Siv:
    »Ich … ich habe vorhin meine Taschenlampe hier vergessen, als ich Schwester Marianne dabei geholfen habe, Herrn Peterzén zu betten. Sie liegt auf dem Wäschewagen …«
    »Dann holen Sie sie!«
    Stolpernd ging sie ein paar Meter auf die Tür zu. Nachdem sie ein paar Sekunden im Dunklen herumgetastet hatte, stießen ihre Finger auf eine harte Plastikoberfläche. Sie griff sich den schweren Koffer und ging mit ihm auf den Arzt zu.
    »Bin … bin ich jetzt in Ihrer Nähe?«
    Eine Hand auf ihrem Arm ließ sie zusammenzucken. Er riss den Koffer an sich.
    »Was ist das? Der Notfallkoffer! Was sollen wir denn damit? Es ist ja pechschwarz!«
    »Im Deckel sind der Ambu-Beutel und das Laryngoskop. Das Laryngoskop ist aufgeladen. Damit können Sie leuchten.«
    Murrend riss der Arzt den Notfallkoffer auf. Nach einigem Suchen fand er die Lampe, mit deren Hilfe betäubten oder bewusstlosen Patienten der Beatmungstubus in die Luftröhre eingesetzt wurde. Er klappte sie mit einem Klick auf und richtete den schmalen, intensiven Lichtstrahl auf den Mann im Bett.
    Jetzt konnte er sich leichter im Zimmer orientieren. Schwester Siv ging langsam auf das Beatmungsgerät neben dem Bett zu und fand den Abstellknopf für den Alarm. Die Stille war ohrenbetäubend, nur die Atemzüge des Arztes und der Schwester waren zu hören.
    »Herzstillstand! Wo ist Schwester Marianne? Marianne!«, schrie der Arzt.
    Er drückte dem Patienten die Maske des Beatmungsbeutels über Mund und Nase.
    »Sie kümmern sich um die Beatmung, ich mache die Herzmassage«, zischte er verbissen.
    Die Schwester begann Luft in die reglosen Lungen zu pumpen. Mit den Handballen massierte der Arzt rhythmisch das Brustbein. Während des Wiederbelebungsversuchs wechselten sie kein Wort. Obwohl der Arzt direkt in den Herzmuskel Adrenalin spritzte, gelang es ihnen nicht, das Herz wieder zum Schlagen zu bringen. Schließlich gaben sie auf.
    »Es hat keinen Sinn! Verdammt! Wo ist nur Schwester Marianne? Und wieso ist das Notstromaggregat nicht angesprungen?«
    Der Arzt nahm das Laryngoskop vom Nachttisch und leuchtete mit seinem dünnen Lichtstrahl in dem kleinen Zimmer der Intensivstation herum. Plötzlich sah Schwester Siv den Wäschewagen. Vorsichtig ging sie, die beiden Hände in Hüfthöhe vor sich ausgestreckt, darauf zu. Mit der rechten Hand stieß sie gegen einen Stapel Laken. Sie ertastete Plastikhandschuhe und Nierenschalen. Schließlich bekam sie ihre Taschenlampe zu fassen und knipste sie an.
    Das Licht traf den Arzt direkt in die Augen. Er unterdrückte einen Fluch und hob die Hände.
    »Entschuldigung … ich wusste nicht, wo Sie stehen«, stotterte Schwester Siv.
    »Ja, ja. Schon in Ordnung. Gut, dass Sie endlich eine richtige Taschenlampe gefunden haben. Leuchten Sie mal,
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