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Wohin mit mir

Wohin mit mir

Titel: Wohin mit mir
Autoren: Sigrid Damm
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heimisch: Es ist mir als wenn ich hier gebohren und erzogen worden wäre und nun von einer Grönlandfahrt und einem Wallfischfang zurückkäme. Und noch als alter Mann verklärt er seine Zeit in Rom, der Fünfundsiebzigjährige äußert: Ja, ich kann nur sagen, daß ich nur in Rom gefunden habe, was eigentlich ein Mensch sei. Zu dieser Höhe, zu diesem Glück der Empfindung bin ich später nie wieder gekommen, ich bin, mit meinem Zustande in Rom verglichen, eigentlich nie wieder froh geworden.
    Und ich? Was will ich hier? Habe ich nicht meinen Mittelpunkt gefunden, in der einsamen Landschaft im hohen Norden? Was will ich hier?
     
    Italien ist bereits in Goethes Kindheit gegenwärtig. Roma nuncupata , Rom, die heilige, schreibt der Siebenjährige in einer Lateinübung. Sein erstes Spielzeug ist ein vom Vater aus Venedig mitgebrachtes Gondelmodell. Rom-Ansichten, Veduten von Piranesi-Vorgängern sind ihm in seinem Elternhaus am Hirschgraben in Frankfurt täglich vor Augen. Ein Sprachmeister namens Domenico Giovinazzi unterrichtet die Schwester Cornelia und ihn. Oder der Vater tut es; sein großes Erlebnis Italien, immer wieder erzählt er den Kindern davon, über viele Jahre arbeitet er an seinen Aufzeichnungen »Viaggio per l' Italia«. Später Goethes Lektüre von Horaz' »Sermones« in der Übersetzung Wielands. Die Begegnung mit Winckelmanns Arbeiten. Nach Italien …! Nach Italien! schreibt der Einundzwanzigjährige einem Studienfreund. Rom als seine Universität . Rom als der Ort der universalen Bildung. Als 1775 der Bote, der ihn nach Weimar begleiten soll, ausbleibt, notiert er: Ich packe für Norden, und ziehe nach Süden . Er kommt nur bis Heidelberg, da erreicht ihn der Ruf an den Weimarer Fürstenhof.
    Für fast ein Jahrzehnt scheint dann das Italienbild vor der Gegenwart Thüringens zu verblassen. Am 13. November 1779, als Goethe zum zweiten Mal auf dem Gotthard steht und wiederum, nun dem Herzog zuliebe, umkehrt, heißt es: Auch iezt reizt mich Italien nicht .
    Dann aber, am Ende des Jahrzehnts, wird der Drang nach Süden übermächtig. Der Hintergrund ist die tiefe Krise, in die er stürzt. In all seiner Geschäftigkeit , seinem Engagement am Fürstenhof muß er sich seine Ein
flußlosigkeit eingestehen. Zunehmend enttäuscht ihn die Politik des Herzogs. Er verabschiedet sich von dem Wahn, die himmliche Juwelen seiner poetischen Existenz könnten in die irdischen Kronen dieser Fürsten gefaßt werden . Die schmerzhafteste Erkenntnis aber: seine amtliche Tätigkeit hat ihn als Künstler erstickt: da ich mir vornahm meine Fragmente drucken zu lassen, hielt ich mich für todt .
    Die Reise nach Rom, nach Italien – seit über dreißig Jahren Wunsch und Hoffnung – wird nun zur physischen, zur existentiellen Notwendigkeit. Von Hegire = Flucht ist in einem Brief an den Herzog die Rede. Sich aus allen amtlichen Zwängen und Verpflichtungen herausreißen, zum Werk, zur Dichtung zurückkehren: wie froh will ich seyn, wenn ich mich durch Vollendung des angefangenen wieder als Lebendig legitimiren kann .
     
    Und ich? Italien, Rom war nie in meinem Kopf. Eine beschämende Unwissenheit, eine vollständige Leere. Habe ich nicht alles, was unerreichbar war, in eine weiße, unbeschriebene Fläche verwandelt. Bewußt! Die Reisebeschränkung als Sperre im Kopf. Meine Bildungserlebnisse mit sechzehn, siebzehn waren die Eremitage in Leningrad, die Tretjakow-Galerie in Moskau, die Museen in Budapest und Prag.
    Mir fällt der April 1987 ein, mein Italien-Aufenthalt noch in DDR -Zeiten nach dem Erscheinen meines ersten Buches »Vögel, die verkünden Land. Das Leben des Jakob Michael Reinhold Lenz«. Drei Wochen Süden; Lesungen in Bari, Parma, Turin. Ein einziger Tag
Rom! Domenico Mugnolo, ein mir seit vielen Jahren befreundeter Literaturprofessor aus Bari, hatte mir einen Stadtplan geschenkt, über römische Straßen und Plätze eine Linie gestrichelt, die ich entlanglaufen solle, um in der Kürze der Zeit möglichst viel zu sehen. Ich erinnere mich, wie ich geradezu süchtig die Stadt mit allen Sinnen aufnahm. Wie ich in der Sixtinischen Kapelle, überwältigt von Michelangelos Deckenmalereien und seinem Jüngsten Gericht stand, tränenüberströmt; niemals würde ich das wiedersehen, nie würden das meine Söhne sehen.
    Zehn Jahre später dann das Geschenk eines halbjährigen Aufenthaltes in der Ewigen Stadt. Jeder beneidete mich, eine einmalige Chance. Und jetzt bin ich hier. Eingepackt, zugeschnürt, liegt das
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