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Wohin mit mir

Wohin mit mir

Titel: Wohin mit mir
Autoren: Sigrid Damm
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windstillen Tag brenne ich die Wiese ab. Höre auf das Fallen der Regentropfen auf das Dach der Terrasse, höre auf die Kehllaute der Vögel. Beobachte die Vorgänge im Ameisenhaufen oder mit dem Fernglas die sich entfaltenden Blätter an den Bäumen. Der Frühling kommt hier explosionsartig. Über Nacht erscheint ein blühender Teppich von Anemonen hinter dem Vorratshaus. Und die braunen wurmartigen Gebilde am Wegrand rollen sich zu stolzen Farnen auf. An den Bäumen kann ich die Blätter wachsen sehen, ich renne hinaus, mehrmals, messe, in wenigen Stunden neun Millimeter, und innerhalb von zwei Tagen ist die zum Haus führende Birkenallee in ein berauschendes Gelbgrün getaucht.
    Die Sonnenturbine läuft. 26 Grad am Mittag. Es dämmert zwar am späten Abend, aber es wird nicht mehr dunkel. Ich laufe um Mitternacht über die Wiesen und in den Wald hinein. Einige Breitengrade weiter oben steht die Sonne schon ununterbrochen am Himmel. Wie soll mein Kindeskind hier Tag und Nacht unterscheiden und schlafen können. Und die Mücken. Ich messe die Fenster in der Schlafkammer aus, fahre ins Nachbardorf, bestelle Mückenfenster und Verdunklungen.
    Und die Abende am Kamin, das prasselnde, lodernde, sprühende Feuer, wie in all den vergangenen Jahren. Stundenlang sitze ich, ohne mich zu rühren. Oder liege auf der Bank in der Stube und sehe in die Flammen. Erhebe mich nur, um ein Scheit Holz nachzulegen. Oder um zu tanzen. Nach Zamfir, der seine Panflöte zu Bach, Albinoni, Corelli und Telemann spielt.
    Und plötzlich weiß ich, daß der Erfolg meines Buches mit diesem Ort zu tun hat. Hier ist es überwiegend entstanden. In dieser Leere, Stille, dieser Unendlichkeit. Hier habe ich Zeithaben und Gelassenheit gelernt; am Feuer und auf den Gängen über die einsame Landschaft. Wartenkönnen, bis das überlieferte Material sich freigibt, Rhythmus und Sprache sich finden. Undenkbar, daß man sich in den Himmel der Literaturwissenschaft oder in den der Spekulation versteigt, hier hat man die kleinen Bleigewichte an den Füßen, ist geerdet, ist der Erde nah.
    Freilich, unbedingte Konzentration ist nötig. Wenn die Söhne in die Berge aufbrachen, begnügte ich mich, mit dem Finger auf der Landkarte entlangzuwandern. Jetzt aber, und das ist der Grund meiner Reise, werde ich das tun, wovon ich während der Jahre der Arbeit am Manuskript geträumt habe: die nahe am Haus vorbeiführende Straße weiterzuziehen bis an ihr Ende, bis an die Atlantikküste nach Bodø in Norwegen.
    Der Rucksack ist gepackt. Am 1. Juni breche ich auf. In Bodø angekommen, feiere ich mit wildfremden Menschen die Mitternachtssonne. Dann weiter nach Narvik. Von dort über Katterjåkk nach Riksgränsen. Schließlich über Abisko, Kiruna und Gällivare zurück nach Roknäs. Zwölf Tage bin ich unterwegs. Ein Sinnenrausch. Ich schreibe nichts auf. Ich mache kein Foto. Aber mein Kopf ist übervoll. Erlebnisintensität. Neue Arbeitsfelder.
     
    Die große Unruhe, von der ich nach der Rückkehr nach Deutschland erneut erfaßt wurde. Seit Monaten schon
wird das Haus, in dem ich wohne, saniert. Die Balkonbrüstungen aus Beton sind abgerissen, auf dem Brettergerüst spazieren die Bauarbeiter, winken durch die offene Balkontür, wenn man noch im Bett liegt. Baulärm. Alle Rohrleitungen werden erneuert, wochenlang gibt es in der Küche keine Kochmöglichkeit, einige Tage lang ist selbst die Toilette nicht zu benutzen. Das Haus wird in Eigentumswohnungen verwandelt; ich kann meine sechsundvierzig Quadratmeter kaufen. Bestimmen, welche Fliesen, wohin mit den Steckdosen, auch alle Stromleitungen werden erneuert. Die fast dreißig Jahre alte Einbauküche aus Sprelacart zerfällt beim Abmontieren in ihre Einzelteile. An Mangelwirtschaft gewöhnt, werde ich nun mit Überfluß konfrontiert. Die Überfülle der Angebote. Durch Baumärkte, Küchenstudios.
    Und inmitten von Einkaufshektik und Baulärm die Durchsicht der Fahnen von zwei Manuskripten. Den Aufwind des Erfolgs nutzen, sagt mein Verleger. Eines der Manuskripte liegt ihm besonders am Herzen, es ist sein Vorschlag, das andere mit Arbeiten aus zwei Jahrzehnten ist mir nahe.
     
    Der Termin der Abfahrt nach Rom verschiebt sich. Mein Sohn Joachim bekommt vom Hebbel-Theater die Chance, einen Beitrag zum dem im Jahr 1999 in Berlin stattfindenden »Theater der Welt« zu entwickeln. Er wählt einen Aufführungsort im Freien, den Humboldthafen am Lehrter Stadtbahnhof. Er arbeitet wie besessen, in kürzester Zeit entsteht das
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