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Wohin mit mir

Wohin mit mir

Titel: Wohin mit mir
Autoren: Sigrid Damm
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Kindeskind ein Schuljunge von zehn Jahren ist, reise ich mit ihm und seinem Vater nach Grönland. Wir begegnen den Walfängern, wandern durch die kleinste Hauptstadt der Welt, durch Nuuk. Bei Ilulissat in der Disco-Bucht die gewaltigen Eisberge; wir hören das dumpfe Tosen, mit dem sich Stücke von dem immer schneller schmelzenden grönländischen Eisschild lösen und ins Meer stürzen. Wir erleben die Inuit und ihre Sorge, daß der Eispanzer bis zum Ende des 21. Jahrhunderts geschmolzen sein kann.
    Island, die krisengeschüttelte Insel. Von Reykjavík aus fliegen wir mit einem kleinen Flugzeug über die Eiswüsten der Gletscher, über Geysire und Vulkane. Die Entzückungsschreie des Schulkindes. Sein Staunen. Die Erde liegt unter uns. In mir das Bewußtsein ihrer möglichen Zerstörung durch die Menschen und zugleich wieder wie in den nordischen Bergen die Nähe
zur Schöpfung, das Gefühl ganz bei sich zu sein; eine schlaflose Landschaft , die zum Vollsein verhilft. Landschaft als Inbild der Ruhe.
     
    All das liegt noch vor mir, als ich in jener Januarnacht mit Tobias von Italien nach Deutschland zurückkehre. Die lange Fahrt. Unsere Gespräche über das Nächstliegende. Daß wir zum Sommerende, wenn die letzten Wanderer über die Berge Lapplands gehen und alles in die irren nordischen Herbstfarben getaucht sein wird, zu dritt dort wandern werden, jene Siebentage-Wanderung, die wir für unsere Tage- und Nächtebücher gewählt haben. Dann die Paßhöhe – wieder das Schild Brénnero/Brenner . Die zu beiden Seiten der geräumten Autobahn aufgetürmten Schneemassen; wir versuchen uns vorzustellen, wie es jetzt im hohen Norden, wie in Roknäs und auf dem Wintermarkt in Jokkmokk aussehen mag. Und in uns steigt die Lust auf, gleich weiter zu fahren, bis – wie die italienbegeisterten Schweden verächtlich sagten – zum Ende der Welt.
    Und plötzlich überströmt mich ein heißes Glücksgefühl. Der Süden ist in mir, ich kann ihn nach Norden mitnehmen. Das halbe Jahr in Rom, in Italien. Die Stipendiatenzeit. Das Geschenk. Die Menschen, denen ich nahe gekommen bin, die Kunstwerke, Gemälde, Skulpturen, die Architektur, die Landschaften, das südliche Licht. Eine große Dankbarkeit für all das Erlebte erfüllt mich. Wenngleich mir durch meinen inneren Zwiespalt das Gesehene oft von einem Augenblick zum nächsten versunken schien, weiß ich in jener Nacht: Nichts wird verloren gehen, irgendwann wer
de ich es zurückholen, mich erinnernd, schreibend. Wer es gesehen hat der hat es auf sein ganzes Leben.
    Langes Schweigen. Dann liegt das urzeitliche Tier, liegen die Alpen in unserem Rücken. Innsbruck, Rosenheim, München, Nürnberg. Das heimatliche Thüringen durchfahren wir in völliger Finsternis. Gegen vier Uhr, als es zu grauen beginnt, nähern wir uns Berlin, unserem Zuhause; es ist der dritte Morgen des neuen, des 21. Jahrhunderts.
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