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Wohin mit mir

Wohin mit mir

Titel: Wohin mit mir
Autoren: Sigrid Damm
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seit der Antike als Straßenzug bekannt, war schon zu Goethes Zeiten die Flaniermeile der Stadt. Das ist sie geblieben. Hierher, in die historische Altstadt, strömen die Römer an Wochenenden und Abenden. Ebenso die Touristen. Was erwarte ich?
    Goethes Klarheit und Ruhe aber ist nicht allein von akustischen Einflüssen abhängig, es ist eine innere Haltung, die für ihn aus dem Glück des endlichen, lang ersehnten Hierseins erwächst. Vielleicht ist es auch für mich nicht einzig der Lärm. Sondern die Empfindung, in diesem Museum wenig willkommen zu sein. Dieses
Gefühl schon seit der ersten Stunde. Und ich werde es nicht los.
    Dabei sind alle hilfsbereit und freundlich, besonders Domenico und Massimiliano, die beiden jungen Mitarbeiter, die wenig deutsch und auch nicht englisch sprechen.
    Bin ich zu empfindlich? Das Tief, das mich, seit ich allein in Rom bin, die Tage und Nächte gefangen hält. Ich lebe im Haus eines Toten. Sobald Besucher im Museum sind, kommt es immer wieder vor, daß an meiner Tür geklinkt, sie geöffnet wird, Neugierige, vor allem Japaner, die Köpfe hereinstecken oder mit der Frage eintreten, ob auch hier noch etwas über den großen Dichter zu finden sei. Seltsame Erfahrung.
    Im hohen Norden fühle ich mich sofort auf mein ganzes Leben beruhigt , bin mitten im Leben, mitten in dieser Unendlichkeit, hier aber, in Rom, empfinde ich mich am äußersten Rand einer begrabenen Zeit.
    Der Gedanke, die Stadt zu verlassen, steigt in mir auf. Ich werde den Aufenthalt hier abbrechen. Widersinniger Gedanke, der sich hartnäckig einnistet. Ich muß die Stadt annehmen. Aber wie schaffe ich das?
    Goethe am 7. November 1787: Nun bin ich sieben Tage hier, und nach und nach tritt in meiner Seele der allgemeine Begriff dieser Stadt hervor, … ich tue nur die Augen auf, und seh' und geh' und komme wieder, denn man kann sich nur in Rom auf Rom vorbereiten. Am 3. Dezember: So hat z.B. das Pantheon, der Apoll von Belvedere, einige kollosale Köpfe, und neuerlich die sixtinische Kapelle, so mein Gemüt eingenommen, daß ich daneben fast gar nichts mehr sehe.
Und am 13. Dezember heißt es: Rom ist eine Welt, und man braucht Jahre um sich nur erst drinne gewahr zu werden.
     
    Ein innerlicher Ordnungsruf. Ein Entschluß. Habe ich nicht in der Via del Corso die Ankündigung einer El Greco-Ausstellung gesehen? Ich verlasse die Casa, finde das Plakat. Laufe zu einem Kiosk, kaufe ein Veranstaltungsheft. Suche auf meinem Stadtplan die Via Nazionale. Stehe dann vor der Nummer 194, vor dem Palazzo delle Esposizioni. Vier Stunden in der Ausstellung »El Greco. Identità e trasformazione«. Die Bilder des Malers, der sich El Greco, der Grieche, nennt. Fast ausschließlich religiöse Themen: »Cristo in croce«, »La Sacra Familia con Sant'Anna«. Die in die Länge gezogenen, vergeistigten Gesichter, die spitz zulaufenden Hände, die Flügel werden wollen. Das Purgatorium von Farben: ein kupfriges Blau, ein zersplitterndes Glasgrün, ein Schwefelgelb, ein Phosphorglühn. Und als eines der wenigen nicht sakralen Gemälde die 1585 geschaffene »Allegorie«. Das Bild, vor dem ich 1993 während der Zeit meiner Gastdozentur in Glasgow und Edinburgh so oft stand und das ich für den Umschlag meines Buches »Diese Einsamkeit ohne Überfluß« gewählt habe. Die junge Frau mit der Pechfackel, an der sie eine Kerze entzündet. Das Licht fällt auf ihr Gesicht; der Mann mit dem gelben Hemd ihr zur Rechten, das Äffchen ihr zur Linken. Das lodernde Feuer; Macht und Geheimnis. Die Dreiheit: Mann, Frau, Tier.
     
    15. Juli
    Der Verlag ruft an, in der nächsten Woche sei mein Buch auf Platz 1 der Spiegel-Liste. Und im Verkauf seien die 100 000 überschritten. Der ganze Verlag feiere.
    Und ich? Lese Ortega y Gasset: »Um einen Goethe von innen bittend«. Goethes Geschäftigkeit bestimmt er als fehlende Übereinstimmung mit seinem Ziel, das er seit dem »Werther« verraten habe. Die tiefe Krise, die ihn zur Flucht aus Weimar trieb. Am 1. November 1786, drei Tage nach seiner Ankunft hier in diesem Haus in der Via del Corso, notiert Goethe, er habe diesen langen einsamen Weg gemacht, um den Mittelpunkt zu suchen, nach dem ihn ein unwiderstehliches Bedürfnis hinzog. Von der Notwendigkeit eines neuen Lebens, von Wiedergeburt schreibt er. Und ein halbes Jahr später: In Rom habe ich zu mir selbst zuerst gefunden, ich bin zuerst übereinstimmend mit mir selbst glücklich. Bereits nach der Überquerung der Alpen fühlt er sich in Italien
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