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Wohin mit mir

Wohin mit mir

Titel: Wohin mit mir
Autoren: Sigrid Damm
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als Kopfstützen nutzend; ein friedliches Bild. Überall dieses leise Gemurmel, als ob der jahrhundertealte architektonische Raum die Hierhergekommenen zur Einkehr, Besinnung, zur Ruhe bringe.
    In der Dunkelheit gehen wir zum Palazzo Ravizza zurück. Ich lege den Arm um den Sohn. Er läßt es geschehen. Geschenkte Zeit. Reisen als eine Zwischenwelt des Nicht-mehr und Noch-nicht. Der Körper nimmt mit allen Sinnen den Augenblick auf. Nichts anderes hat Raum. Glück.
     
    10. Juli
    Wieder Schlaraffenleben . Frühstück im Garten des Palazzo Ravizza. Das Handy klingelt. Kein neuer Auftraggeber; sein Bruder meldet sich aus Roknäs, mit Frau und Kind ist er glücklich angekommen. Zwei Monate wollen sie im hohen Norden bleiben.
    Gegen 10 Uhr verlassen wir Siena. Es ist schon heiß. In Bolsena ein lockender See. In Montefiascone beschließen wir, nicht direkt nach Rom zu fahren, sondern die Straße am Meer entlang zu nehmen. Civitavécchia lockt, es liegt, sehen wir auf der Landkarte, direkt am Meer. Aber als wir uns nähern: kilometerweit häßliche Industriezonen, dichter Lastwagenverkehr. Ab und an sehen wir hinter Bauzäunen, Fabrikschloten und Batterien von Silos die blaue Fläche des Mare Ligure. Oder ist es schon das Mar Tirreno? Auch in Sanuta Marinella, Sanuta Severa wird es nicht besser. In Ladispoli die letzte Möglichkeit. An einem stinkenden, offenbar stillgelegten Flußarm parken wir das Auto. Zum Meer sind es keine fünfzig Schritte. Die Bademöglichkeit, ein eingezäunter Bereich, die Menschen liegen fast übereinander im schwarzen Sand. Musik dudelt. Wir legen unsere Sachen ans Ufer, schwimmen hinaus, das Wasser hat eine Temperatur von 28 Grad und bringt keine Abkühlung. Wir lachen über unsere gescheiterte römische Meeridee. Es ist schon weit über Mittag, und Hitze und Schwüle sind schwer zu ertragen.
    Auf den Zufahrtsstraßen nach Rom ist wie erwartet Stau. Dann aber sehen wir schon die Kuppel des Petersdoms, sind auf der Brücke, der Ponte Cavour, wir müssen nur noch ein Stück am Tiber entlang und
von der Piazza del Popolo in die Via del Corso einbiegen. Als wir dort sind, ein Polizist. Ein Verkehrsschild, das die Weiterfahrt verwehrt. Fast zwei Stunden irren wir durch die Stadt. Dann sind wir wieder bei dem Polizisten an der Piazza del Popolo. Erkennt er uns wieder? Er winkt. Wir halten an. Erklären ihm, wo wir hinwollen, zeigen unsere Einladung. Casa di Goethe, Via del Corso Numero 18? Si, si, sagt er lächelnd und macht uns mit einer eleganten Bewegung den Weg in die Fußgängerzone des Corso frei.
    Es ist 16 Uhr, als wir endlich vor der Tür der Casa di Goethe stehen und klingeln. Eine Praktikantin aus Deutschland empfängt uns. Die Leiterin der Casa di Goethe hat Urlaub. Das Stipendiaten-Appartement. Moderne Büromöbel. Meine völlig andere Erwartung. Tobias nimmt auf Video auf, wie ich das Zimmer betrete, in welchem ich ein halbes Jahr leben werde. Am Abend zeigt er mir am Computer die Sequenzen. Mein Gesicht kann die Enttäuschung nicht verbergen. Wir lachen. Mit einem Raum ist es wie mit einem Menschen, sage ich, der erste Blick entscheidet über Sympathie oder Antipathie. Ich denke an meine aus rohen Holzbalken gezimmerte Kammer in Roknäs. Tisch, Stuhl, Petroleumlampe, Bett, Truhe. Die Energie dieses Raums.
    In der römischen Casa auf den zweiten Blick versöhnliche Details. Das Hell-Dunkel des Gebälks der Kassettendecke. Der Fußboden mit seinen länglichen Terrakotta-Fliesen in einem warmen Rotbraun. Vor allem die tiefe Fensternische mit dem Lichteinfall vom Corso her. Diese Nische ist offensichtlich ein Anklang an
Tischbeins Aquarell »Goethe am Fenster seiner römischen Wohnung«. Zwischen Schläfrigkeit und Wachen, in Pantoffeln, Kniehosen, das Haar lose gebunden, steht Goethe ungezwungen in lässiger Haltung am Fenster, beugt sich aus einem der geöffneten Flügel. Das bei Tischbein viergeteilte Fenster ist jetzt eine Tür mit zwei Flügeln, die sich wie damals das Fenster durch hölzerne Innenläden – sogenannte scuri – verdunkeln läßt. Dieses liebevolle Architektur-Zitat wie auch das der Fliesen, in Form und Farbe denen auf Tischbeins kolorierter Zeichnung gleich, rührt mich: für einen Moment das heitere Gefühl am authentischen Ort zu sein.
    Wir öffnen die Tür, treten hinaus. Ein winziger Balkon. Auf ihm weht eine rote Fahne mit der Aufschrift »Casa di Goethe«. Am Abend sitzen wir mit einem Glas Wein auf dem Balkon. Der Blick hinunter. Ein Hin- und Herwogen, Rufen,
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