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116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

Titel: 116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)
Autoren: Thomas Heams-Ogus
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1942
    Man müsste sich eine Kugel vorstellen, aus Blei und tiefschwarz, das Tageslicht vollständig absorbierend und dicht vor der eigenen Schwere und Wärme, die sich mischen, ineinanderfließen. Die Kugel rührte sich nicht. Ihr Sockel wäre ein Berg. Ein Berg in der Mitte Italiens, fast der höchste, nicht der eindrucksvollste, der aber vor dem, der sich von der nahen Küste her nähern würde, aufragte als natürliches Hindernis. Man näherte sich ihm wie einem Tabu, durch lichte Täler. Lange würden die Kuppen der Hügel seine Schroffheit verbergen. Dann würde er sich zeigen, schon stünde man direkt davor, eine klare Grenze, und wer stur weiter Richtung Westen gehen wollte, wüsste, dass er zuvor Rast machen muss. Aber um das zu sagen, müsste man schon am Fuß des Berges stehen. Es ist noch zu früh, im Augenblick liegt die Kugel auf dem Gipfel, und niemand könnte sie dort sehen. Da wäre Wind, Vögel kreisten umher. Der Berg wäre durch die bleierne Kugel vorübergehend um ein winziges Stückchen höher. Sie läge dort, es wäre heller Tag. Plötzlich verändert sich alles. Ein Hauch, eine Bewegung, ein Stoß. Vielleicht sogar etwas Dumpfes, im Erdinnern, tellurisch. Eine Störung des Gleichgewichts, eine Kraft. Und die Kugel rollt, zuerst ganz langsam von ihrer kleinen Anhöhe herab, um sanft Fahrt aufzunehmen, und hört dann nicht mehr auf, sich zu bewegen, fast bleibt sie an einer flacheren Stelle liegen, aber nein, es geht weiter, die Leere zieht sie an, das Nichts lockt sie, und sie wird schneller, ist ein glühend heißer, isolierter Fleck in der kühlen Höhenluft. Hinab. Schnell hat sie die Grenze erreicht zwischen dem felsigen, jäh abfallenden Gipfel und der breiten bewaldeten Basis, die den Berg abzustützen scheint, fast eine Höhenlinie. Dafür hat sie nicht lange gebraucht, und auf dem Weg dahin ist sie gegen eine bestimmte Anzahl von Steinen gestoßen, nur flüchtige Berührungen, und von dort gleich weiter zu anderen Felsbrocken, die auf ihrem Weg liegen, weil ihre je eigene Geschichte sie dort hat liegen lassen. Vielleicht wird die Kugel im Wald langsamer, wo das Gefälle geringer und die Luft feuchter ist, aber kaum merklich, denn noch ist sie berauscht von der Geschwindigkeit, mit der sie durch die Weißtannen schießt. Jeder Punkt auf ihrer winzigen Oberfläche ist dem abrupten, unregelmäßigen Wechsel von Schatten und Licht ausgesetzt, aber diese Unregelmäßigkeit wäre, hätte jemand dieser Kugel aus Blei Beachtung geschenkt, nicht zu erkennen gewesen, aber das täte niemand, und außerdem gibt es die Kugel gar nicht. Durch ihre Aufschläge kaum gebremst, würde sie vielleicht an einer Schutzhütte vorbeirollen, vielleicht an einem Menschen, der zu dieser Schutzhütte läuft, erschöpft, mit offenem Mund, pochenden Schläfen, Schweißperlen auf der Stirn, ein saurer Schweiß, der in den Augen brennt, aber sieht jemand diese Gefahren, sieht jemand diese Bedrohungen, existiert dieser Mensch überhaupt? Ihre Trägheit wäre ihr alleiniger Herr, also würde sie ihren Weg fortsetzen und diese Erscheinung hinter sich lassen. Immer wieder setzte sie ganz kurz auf der lockeren Erde auf, die ihre Sprünge viel stärker abfedern würde als der steinige Untergrund auf dem Gipfel, der schon weit zurückläge, schon Geschichte und somit schon Vergessen wäre. Sie wäre immer noch weit von den Menschen entfernt, käme ihnen aber immer näher, und bald würde die Geschichte beginnen, Anfang und Ende zufällig gewählt, ein Schleier über dem Davor, das Danach sich entziehend. Im Schatten, wo die Aufsetzer nur unmerklich länger dauerten, würde sie darin die Herzschläge der Menschen von weither spüren, die erst den Brustkorb zum Schwingen bringen, sich dann auf den ganzen Körper übertragen, bevor sie ihn verlassen und sich im schweigenden Wald verlieren.
    Die Kugel würde in diese Pracht aus Grüntönen hineinschießen, zartes Grün junger Blätter, durch die die Sonne hindurchleuchtet und Aderung und Poren sichtbar macht, schwarzes, undurchdringliches Grün der dickeren Blätter da, wo das Licht die Waffen streckt und im blendenden Gegenlicht nur die Umrisse nachzeichnet, tausend verschiedene Grüntöne, vom Rauschen der Bäche ganz zu schweigen und von der staubigen Erde, den Gräsern, die sie streift, vorüberziehende Details, die aber von der Geschwindigkeit absorbiert würden, und dann die helle Schneise, die schon ein Hinweis auf den Waldrand wäre, wo der Wald sich zum Dorf hin öffnet,
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