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Wofuer wir kaempfen

Wofuer wir kaempfen

Titel: Wofuer wir kaempfen
Autoren: Tino Kaeßner , Antje Kaeßner
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verschaffen, was genau geschehen ist. Die Meldungen sind verwirrend, weil es an diesem Morgen an der Route Violet noch einen anderen Anschlag mit Toten gibt, und nahe des Stadtzentrums erschießen ISAF-Kräfte bei einem weiteren Zwischenfall den Fahrer eines Autos, das trotz Stoppsignalen ungebremst auf ihre Straßensperre zurast. Die Sicherheitskräfte sind nach den Anschlägen äußerst nervös.
    Ich will Tino eine E-Mail schicken und fragen, ob er etwas von dem Anschlag mitbekommen hat, und gleich auf der Startseite meines E-Mailaccounts sehe ich das Foto des zerstörten Feldjägerautos. Es ist eines der gepanzerten Personenschützerfahrzeuge vom Typ Wolf, mit denen auch Tino unterwegs ist. In diesem Moment wird mir klar, dass es diesmal ganz nahe einschlagen würde. Denn so viele Feldjäger im Personenschutz gibt es in Kabul nicht, und von diesem Wolf fahren in Kabul nur ein paar herum. Ich wusste auch, dass Tino und Stefan mit vier weiteren Soldaten aus Murnau in Kabul für den Personenschutz zuständig waren. Dann habe ich angefangen zu rechnen: Selbst wenn die dritte Person eine zu schützende Person gewesen sein sollte, dann waren garantiert zwei vom Personenschutz mit dabei. Es war jetzt völlig ausgeschlossen, dass Tino nicht in irgendeiner Weise in die Sache verwickelt war. Mehr noch: Ich war überzeugt, dass Tino eines der Opfer sei.

    Aber was konnte ich tun? Warten. Die Mail an Tino war abgeschickt. Selbst wenn ihm nichts passiert war, würde die Antwort bis zum Abend dauern. Damals rauchte ich noch. Ich zündete mir eine Zigarette nach der anderen an und musste immer auf den Balkon, weil wir im Büro nicht rauchen durften. Die Kollegen fragten, was denn los wäre. Ich erzählte, dass ich jede Sekunde mit dem Anruf rechnen würde, dass es Tino erwischt hätte. Bis dahin wusste keiner meiner Kollegen, dass mein Freund im Einsatz war. Eine Kollegin meinte: »Da sind doch so viele Soldaten unten, da wird Tino schon nicht dabei sein.«
    Diese Ungewissheit. Als ich den Fernseher im Büro anschalte, kommen schon die ersten Bilder – fast in Echtzeit, wie man meint. In Kabul dreht ein Kamerateam der britischen Nachrichtenagentur Associated Press Bilder von der Route Violet, als nur 200 Meter entfernt die Bombe explodiert. Vom Dach einer Werkstatt aus liefern sie wacklige, grobkörnige Bilder von einem Soldaten, der schwer verletzt am Vorderreifen eines zerstörten Militärfahrzeugs sitzt, man sieht ein brennendes Autowrack in einem Trümmerfeld, noch mehr Verletzte, Schaulustige und herbeieilende Soldaten und Löschmannschaften … Im Camp Warehouse hat das Oberkommando den Code »Blaulicht Charlie« ausgegeben, den in der Bundeswehr üblichen Alarm für einen medizinischen Notfall mit Bundeswehrangehörigen. Patrouillen und Ärzte sind unterwegs zum Anschlagsort.
    Während ich in Murnau fassungslos die Berichte im Fernsehen verfolge, erreicht die Nachricht vom Anschlag an diesem 14. Novemer 2005 auch die Bundesregierung und ihre Politiker. In Karlsruhe eilt Verteidigungsminister Peter Struck vor die Kameras. Er ist dort auf dem SPD-Parteitag, wo die Partei über den neuen Koalitionsvertrag mit der Union abstimmen soll. Die SPD hat die Bundestagswahl verloren: Ein Machtwechsel,
der Brioni-Mann geht, Angela Merkel wird Kanzlerin, und in der kommenden Woche soll auch Struck sein Amt an den designierten Verteidigungsminister Dr. Franz Josef Jung von der CDU übergeben. Ein bitterer Abschied für Peter Struck, der in seinen letzten fünf Amtstagen noch einmal vor die Angehörigen toter und verletzter Soldaten treten muss. Erst sechs Wochen zuvor hatte Struck die Ausweitung des ISAF-Mandats mit großer Mehrheit durch den Bundestag gebracht und die Anzahl der deutschen Soldaten auf 3000 erhöht. Struck wirkt deutlich betroffen, als er in die Kameras spricht: »Wir haben heute einen Soldaten verloren. In Kabul. In Afghanistan. Es war ein Angehöriger der Feldjäger, der bei diesem Selbstmordattentat auf dieses Feldjägerfahrzeug ums Leben gekommen ist. Außerdem ist ein Soldat schwer verletzt worden bei diesem Selbstmordattentat. Ein anderer leicht verletzt. Und es gibt auch Verletzte im Bereich der afghanischen Bevölkerung.« Einen Grund, der Gewalt nachzugeben und die Bundeswehr aus Afghanistan abzuziehen, sieht Struck nicht, im Gegenteil: »Dieser Anschlag ist ein Beweis dafür, dass wir keine stabile und keine ruhige Lage, selbst nicht in der Hauptstadt Afghanistans haben. Und ein Beweis dafür, dass wir eine
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