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Wofür du stirbst

Wofür du stirbst

Titel: Wofür du stirbst
Autoren: Elizabeth Haynes
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meldet sich. Ich frage mich, ob sie für mich oder gegen mich aussagen würde. Das hängt vor allem von ihrer Geistesverfassung ab. Sie wissen alle, dass ich ihnen nichts getan habe. Sie wissen alle, dass ich auf ihrer Seite stand.
    Meine Bilder und die dazugehörigen Aufzeichnungen haben sie bis jetzt mit keinem Wort erwähnt; ich gehe also davon aus, dass sie immer noch gut versteckt sind. Ich bin mir sicher, dass sie meinen Prozess negativ beeinflussen würden – falls er überhaupt jemals stattfindet –, auch wenn auf ihnen nur die Verwesungsstadien zu sehen sind. Man kann mich keiner weiteren Verbrechen beschuldigen, aber wenn die Staatsanwaltschaft die Bilder im Gerichtssaal zeigt, könnten die Geschworenen das falsch verstehen. Wenn man die Unterlagen nicht findet, ist diese traurige Farce vielleicht schon bald vorbei und endet mit einer kurzen Freiheitsstrafe, die wegen meiner Zeit in Untersuchungshaft vermutlich sowieso ausgesetzt würde.
    Vielleicht bin ich tatsächlich recht bald wieder auf freiem Fuß.
    Ich hatte gebeten, man möge mir Bücher von zu Hause schicken, doch stattdessen muss ich mich mit der Gefängnisbibliothek begnügen, die meinen Ansprüchen keinesfalls genügt, aber immer noch besser als nichts ist, wie sie sich ausdrücken. Wie dem auch sei, leider wurden ein paar meiner Anfragen ohne Begründung abgelehnt. Ich wünsche mir daher, sie würden sich beeilen und mich wegen was auch immer verurteilen, damit ich mich endlich interessanteren Studien zuwenden kann, als den Zustand der Fingernägel der Kantinenbedienung zu kontrollieren oder die endlosen Briefe zu lesen, die man mir schickt. Unter anderem auch die von ein paar Frauen, die mich ironischerweise plötzlich offenbar unwiderstehlich finden. Ich lese diese Briefe zur Unterhaltung immer wieder, schließlich kann ich nicht viel anderes tun. Manchmal korrigiere ich Rechtschreibung und Grammatik – »du musstest ihnen nicht Sachen antun, die du getan hast, du hättest mit mir was machen können« – gütiger Gott –, und manchmal verbringe ich auch die Zeit damit, mir die Frauen vorzustellen, die sich die Mühe machen, mir zu schreiben. Das ist natürlich einfacher, wenn sie ein Foto beifügen. Eine schickte letzte Woche sogar einen Schnappschuss im Bikini, doch der Anblick war traurig und reichte nicht einmal für eine winzige Erregung aus.
    Allerdings gibt es da noch eine …
    Sie heißt Nancy Heppelthwaite und ist neunundzwanzig Jahre alt. Sie hat in Oxford studiert, liebt Kunst, Musik und Literatur. Sie malt. Sie tanzt gerne, ist aber noch nie jemandem begegnet, mit dem sie gerne tanzen würde. Sie hat mir bis jetzt noch kein Foto geschickt, obwohl ich ihr geantwortet und sie darum gebeten habe – doch irgendwie bin ich auch froh darüber, dass sie für mich bisher noch kein Gesicht hat. So kann ich mir in den ruhelosen Momenten, wenn das Licht ausgeht und man nur noch die Schreie und das Stöhnen der Verrückten hört, die gar nicht in Untersuchungshaft sitzen sollten, oder die Seufzer der Einsamen und Heimwehkranken und das Grunzen aller anderen wie mir, die die Dunkelheit zu harmloser Selbstbefleckung nutzen, herrliche Gedanken zu ihrer Person machen. Alle anderen benutzen Poster, die sie aus irgendwelchen Pornoheftchen reißen, oder zweckentfremden die Unterwäsche-Fotos ihrer Ehefrauen. Ich bevorzuge Nancys Briefe.
    Mir stehen ganz unterschiedliche Möglichkeiten offen, auch wenn ich den Beschränkungen des britischen Strafjustizsystems (möge es in Frieden ruhen) unterliege. Ich kann mein Schicksal selbst bestimmen. Ich will – oh, das will ich sogar sehr – weiter mit Nancy in Briefkontakt bleiben, um zu sehen, was aus dieser im Aufblühen begriffenen Annäherung zwischen uns werden könnte. Außerdem könnte ich meinen Einfluss auf sie noch ausdehnen, sollte sie mich einmal im Gefängnis besuchen (ein Privileg, auf das ich einen Anspruch habe, von dem ich bis jetzt aber noch keinen Gebrauch gemacht habe), oder vielleicht sogar einfach nur durch die Briefe.
    Abgesehen von Nancy, die ich nur ungern an zweite Stelle rücke, steht mir aber noch das größte aller Abenteuer bevor. Ich trage selbst die Kraft zur Transformation in mir. Man wird natürlich nicht zulassen, dass ich mich auf natürliche Art und Weise verwandle, aber ich könnte ein Testament verfassen und darin festlegen, dass ich eine Erdbestattung einer Feuerbestattung vorziehe – das hieße, der Prozess würde sich bei mir so wie bei meinem Vater
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