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Wo Träume im Wind verwehen

Wo Träume im Wind verwehen

Titel: Wo Träume im Wind verwehen
Autoren: Luanne Rice
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gestopft mit Kugelschreibern, Quittungen und Aktennotizen. Weit nach hinten greifend, fand sie in einem Stapel Papiere das Gesuchte. Sie zog das vergilbte Foto heraus und legte es auf den Schreibtisch.
    Es zeigte Joe, als er in die erste Schulklasse ging. Er lächelte, ein vorderer Schneidezahn fehlte. Er hatte blonde Haare und eine widerspenstige Locke über der Stirn. Das Foto hatte braune Flecken, und auf dem Gesicht des Jungen sah man schwarze Sprenkel. Es waren Blutspritzer, und sie stammten von seinem Vater.
    Caroline hatte James Connors Hand gehalten, als er sich erschoss. Unter dem Leichnam eingequetscht, hatte sie das Bild seines Sohnes aus der Blutlache gezogen, die sich auszubreiten begann. Nun saß sie stumm an ihrem Schreibtisch und betrachtete Joes Gesicht.
    Ihre Mutter hatte ihr erlaubt, ihm zu schreiben. Wider besseres Wissen hatte Augusta ihr geholfen, seine Adresse in Newport herauszufinden, und ihr sogar die Briefmarke gegeben. Caroline, damals fünf Jahre alt, hatte dem sechsjährigen Joe Connor geschrieben, wie sehr sie den Tod seines Vaters bedauere. Die Waffe oder das Blut erwähnte sie mit keiner Silbe. Sie wollte nur ihre Anteilnahme am Schicksal eines Kindes zum Ausdruck bringen, das seinen Vater verloren hatte. Ihre Mutter hatte ihr geholfen, die Worte in Druckbuchstaben zu schreiben, und der Brief war kurz gewesen.
    Joe hatte ihn beantwortet. Er bedankte sich für den Brief. Sie erinnerte sich noch gut an die ungelenke Druckschrift des Erstklässlers und seine verwirrenden Worte. »Ich bin froh, dass Du bei meinem Vater warst, als er den Herzanfall hatte.«
    Caroline schrieb zurück. Sie wurden Brieffreunde und führten eine rege Korrespondenz. Zu Weihnachten, zum Geburtstag und zum Valentinstag schickten sie sich gegenseitig Karten. Im Laufe der Jahre begann Joe Fragen zu stellen, die das Schicksal seines Vaters betrafen. Aus den Fragen ging hervor, dass man ihm die Wahrheit verschwiegen hatte, dass er eine völlig falsche Vorstellung vom Tod seines Vaters hatte.
    Joe glaubte allem Anschein nach, dass ihre Väter miteinander befreundet gewesen waren. James Connor hatte Hugh Renwick angeblich in Newport kennen gelernt, wo dieser häufig auf Motivsuche ging. Obwohl sie grundverschieden voneinander waren, hatten sie hin und wieder ein Glas miteinander getrunken. Irgendwann hatte James die Renwicks besucht und in ihrer Küche einen tödlichen Herzanfall erlitten.
    Zu Augustas Bestürzung waren Joes Briefe schließlich mit schöner Regelmäßigkeit eingetroffen. Die Freundschaft zwischen den beiden wurde enger, vor allem, als sie das Teenageralter erreichten. Der Name Connor als Absender wirkte auf sie wie ein rotes Tuch. Schließlich verbot sie Caroline, den Briefwechsel fortzusetzen. Sie konnte Joe Connor nicht ausstehen, er erinnerte sie jedes Mal aufs Neue an die Untreue ihres Mannes.
    Dann blieben die Briefe aus. Caroline hatte seit Jahren nicht mehr an diesen Teil der Geschichte gedacht, aber die Erinnerung besaß noch die gleiche Macht. Sie spürte, wie sich die Röte auf ihrem Hals ausbreitete. Joe hatte schließlich doch noch die Wahrheit erfahren, aber nicht von Caroline.
    Joes Mutter hatte sich geschämt, ihm zu sagen, wie sein Vater wirklich gestorben war, aber eines Tages ließ ein Verwandter versehentlich eine Bemerkung fallen, ein Onkel oder Cousin, Caroline wusste es nicht mehr genau. Und so erfuhr Joe zu guter Letzt, dass sein Vater Selbstmord begangen hatte. Der Herzanfall war eine Lüge gewesen, genau wie die Geschichte von der Freundschaft ihrer Väter.
    James Connor war im Beisein von Menschen gestorben, die seine Feinde waren. Das war schrecklich und lastete schwer auf dem heranwachsenden Jungen. Aber noch schlimmer war für ihn der Verrat, den sie begangen hatte. Bei dem Gedanken daran füllten sich Carolines Augen heute noch mit Tränen. Sie waren Freunde gewesen. Und schon bei den ersten Briefen, die er schrieb, hatte sie geahnt, dass es besser gewesen wäre, ihm reinen Wein einzuschenken.
    Das Ende vom Lied war, dass er ihr nicht verzeihen konnte. Sie hatte die Wahrheit gekannt und sie ihm verschwiegen. Er war siebzehn und hatte das Bedürfnis gehabt, so viel wie möglich über seinen Vater in Erfahrung zu bringen, aber Caroline hatte eine entscheidende Tatsache für sich behalten: Ihr Vater hatte eine Affäre mit seiner Mutter gehabt, und deswegen hatte sich sein Vater umgebracht. Sie hatte ihm das Wichtigste vorenthalten, was Freunde auszeichnet – absolute
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