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Wo Träume im Wind verwehen

Wo Träume im Wind verwehen

Titel: Wo Träume im Wind verwehen
Autoren: Luanne Rice
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Prolog
    Dezember 1969
    I m ganzen Haus roch es nach Weihnachtsplätzchen. Butter, Zucker, Ingwer und Lebkuchengewürz. Ein köstliches Aroma erfüllte die warme Küche, im Radio erklangen Weihnachtslieder. Ein untrüglicher Instinkt sagte Caroline und Clea, dass ein glanzvolles Ereignis bevorstand. Es war ein verschneiter Winterabend, und die Schwestern, fünf und drei Jahre alt, durften länger aufbleiben, um ihrer Mutter beim Backen zu helfen. Sie durften die fertigen, abgekühlten Plätzchen mit weißem Zuckerguss, silbernen Perlen und roten und grünen Streuseln verzieren.
    Immer wenn die beiden Mädchen irgendwo eine Krippe sahen, dachten sie an ihre eigene Familie, denn sie würden bald Zuwachs bekommen. Ihre Mutter erwartete ein Baby. Die Mädchen freuten sich schon auf das neue Brüderchen oder Schwesterchen. Die Wiege stand bereit wie die Krippe im Stall zu Bethlehem. Wenn es ein Junge werden würde, sollte er Michael heißen, hatte die Familie beschlossen, und ein Mädchen Skye. Caroline und Clea hofften insgeheim auf eine Skye.
    Es läutete an der Tür.
    Augusta Renwick, die Mutter der Mädchen, wischte sich die Hände an der dunkelgrünen Schürze ab. Beim Anblick der mehligen Fingerabdrücke auf dem ausladenden Bauch lachten die beiden und liefen aufgeregt mit ihrer Mutter zur Tür. An einem Abend wie diesem konnten alle erdenklichen Wunder geschehen. Vielleicht war der Weihnachtsmann verfrüht gekommen, oder ein Paar stand vor der Tür, das ein Nachtquartier suchte, wie einst die Heilige Familie. Der Vater der Mädchen war nicht da, er malte die winterliche Hafenidylle in Newport, aber vielleicht war er ja vorzeitig nach Hause zurückgekehrt, um sie zu überraschen.
    Es war ein Fremder. Er hatte eine Waffe.
    Der Mann drängte sie mit erhobenem Lauf ins Haus. Die Waffe zitterte in seiner Hand. Er schloss die Tür hinter sich, als wäre er ein wohlerzogener Besucher und kein Einbrecher. Caroline und Clea klammerten sich Schutz suchend an die Beine ihrer Mutter. Deren Stimme klang ruhig und klar, als sie den Mann bat, ihre Kinder zu verschonen, sie gehen zu lassen, ihnen nicht weh zu tun.
    Der Mann begann zu weinen.
    Er richtete den Lauf auf Caroline, dann auf Clea und danach auf Augusta. Die schwarze Waffe schwang in der Luft hin und her, als besäße sie ein Eigenleben. Immer wieder kehrte sie zu Caroline zurück. Sie starrte in die Mündung, in das hässliche kleine Loch, und wusste, dass sich eine Kugel darin verbarg. Aber noch schrecklicher als das Gewehr war der weinende Mann. Bis zu diesem Augenblick hatte Caroline nicht gewusst, dass auch Erwachsene fähig waren, Tränen zu vergießen. Sie hatte weder ihren Vater noch ihre Mutter jemals weinen sehen. Der Anblick schnürte ihr die Kehle zu. Sie umklammerte das Bein ihrer Mutter. Die Augen des Mannes huschten immer wieder zu einer gerahmten Fotografie des Hauses hinüber, in dem sie lebten. Firefly Hill hatte als Studie für ein berühmtes Gemälde ihres Vaters gedient.
    »Er hat sie mir weggenommen!«, sagte der Mann leise. »Er hat mir ihre Liebe gestohlen, hat mir alles gestohlen, was mir jemals wichtig war, und deshalb werde ich ihm nun das wegnehmen, was er liebt.«
    »Was soll das heißen? Wovon reden Sie überhaupt? Sie irren sich, es muss sich um eine Verwechslung handeln …«, begann Augusta; ihre Stimme klang kraftvoller als seine.
    »Ich rede von Ihrem Mann, Mrs. Renwick. Eine Verwechslung ist ausgeschlossen. Es geht um Ihren Mann und sonst keinen. Er befindet sich gerade bei meiner Frau. Zweifeln Sie an meinen Worten? Er hat mir den Menschen weggenommen, den ich liebe, und deshalb werde ich Gleiches mit Gleichem vergelten.«
    »Was wollen Sie ihm wegnehmen?« Caroline spürte, wie die Hand ihrer Mutter auf ihrer Schulter zitterte.
    »Seine Töchter.«
    Augusta atmete schwer. Caroline hörte einen schrillen Aufschrei und konnte nicht glauben, dass er aus dem Mund ihrer Mutter stammte. Sie drückte sich noch enger an ihre Beine, Gesicht an Gesicht mit Clea. Clea sah verängstigt und verschreckt aus, ihre Unterlippe zitterte, war vorgeschoben wie früher als Baby, und sie hob zögernd den Daumen zum Mund. Caroline gab Cleas Daumen einen kleinen hilfreichen Schubs, und schon war er im Mund verschwunden.
    »Lassen Sie die beiden gehen«, sagte Augusta ruhig. »Sie haben Ihnen nichts getan. Es sind doch noch Kinder, sie trifft keine Schuld. Bitte erlauben Sie, dass sie sich in Sicherheit bringen. Sie können nicht ernsthaft wollen, dass
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