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Wo niemand dich sieht

Titel: Wo niemand dich sieht
Autoren: Catherine Coulter
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sehen, wer gewänne.
    Jilly schrie, vielleicht um Laura zu übertönen, vielleicht aber auch wegen des schroffen Klippenrands, der fast fünfzehn Meter tief steil zum Meer und den spitzen, düsteren Felsen hin abfiel. Der Porsche durchbrach die Leitplanke aus Holz und Stahl, gewann noch an Geschwindigkeit und schoss in die weite, schwarze Leere hinaus.
    Ein weiterer Schrei zerriss die trügerische Ruhe, bevor der Porsche mit der Motorhaube voran im bleischwarzen Wasser versank. Es gab kaum ein Geräusch, nur das Pfeifen des Fahrtwinds beim Hinausschießen des Autos, dann ein lautes, klares Aufklatschen und ein kurzes Gurgeln, während sich das Meer über seinem Opfer schloss, um wieder so bewegungslos dazuliegen wie Sekunden zuvor.
    Dann gab es nur noch die pechfinstere Nacht. Und Stille.

1
    Marinehospital, Bethesda Maryland
    Ich fuhr panisch im Bett hoch, griff mir an den Hals, krümmte mich vor Schmerzen. Ein Mann brüllte etwas, direkt neben mir, fast in mein Ohr. Ich bekam keine Luft mehr, drohte zu ersticken. Und ein Typ, der überhaupt nicht da war, schrie mich an. Ich war kurz vor dem Exitus. Endlich gelang es mir, wieder Luft zu kriegen. Ich schnappte danach wie ein Fisch auf dem Trockenen.
    Ein riesiger Schwall eiskalten Wassers hatte mich verschlungen, wie Jonas vom Wal verschluckt worden war. Aber ich war nicht ertrunken. Ich wusste, wie das war zu ertrinken, wusste es so genau, als wäre es erst gestern passiert. Ich war sieben Jahre alt, war mit meinem älteren Bruder Kevin beim Baden gewesen. Kevin hatte mit ein paar Mädchen herumgealbert. Ich war währenddessen mit den Füßen in irgendwelche Unterwasserpflanzen geraten und hängen geblieben. Jilly hatte mich am Ende herausgezogen, meine Schwester Jilly. Hatte mir kräftig auf den Rücken geklopft, während ich würgte und nach Luft rang, bis schließlich das ganze Wasser in einem Schwall wieder herauskam.
    Aber dieser Traum hier war anders. Es kam mir so vor, als hätte mich das Wasser verschlungen, nur für eine Sekunde und dann war nichts mehr gewesen, einfach nichts mehr. Nur Stille, keine Schmerzen, keine Fragen, keine Furcht, einfach ein vollkommenes Nichts.
    Ich schwang meine Beine aus dem Bett und stampfte hart auf den alten, schäbigen Linoleumboden. Heftige Schmerzen durchzuckten meine Schultern, meine Rippen, mein Schlüsselbein, liefen hinunter in mein rechtes Bein und in andere Körperteile, die sich mittlerweile wieder so weit erholt hatten, dass ich sie von meiner »Hitliste« von Verletzungen hatte streichen können. Die scharfen, köstlichen Schmerzen klärten schlagartig meinen benebelten Verstand, rissen mich ins Hier und Jetzt zurück, in mein Zimmer in meinem Lieblingskrankenhaus. Der schreckliche Alptraum, die Panik zu ertrinken, dann das Nichts, das alles war in eine etwas sicherere Distanz zurückgewichen.
    Trotzdem, als ich so heftig mit den Füßen auftrat, haute mich das beinahe um, und nur mein schnelles Reaktionsvermögen - ein rascher Griff ans stählerne Kopfteil des Bettes - rettete mich davor, flach auf die Nase zu fallen. Ich holte erst mal tief Luft und blickte mich dann um. Ich stand noch mit beiden Beinen auf dem grauen Linoleumboden, der mir in den letzten zwei Wochen ebenso verhasst geworden war wie die khakigrünen Wände. Typisch Armeekrankenhaus. Aber Abscheu empfindet nur der, der noch am Leben ist, also war ich im Grunde froh, denn schließlich waren diese Gefühle ein Beweis dafür, dass ich den Löffel noch nicht abgegeben hatte.
    Alle sagten, ich hätte unwahrscheinliches Glück gehabt. Die Bombe hatte mir nicht den Kopf oder sonstige wichtigen Körperteile abgerissen. Ich fühlte mich jedoch, als wäre ich unter einen Laster geraten - hier ein paar Quetschungen, dort ein gebrochener Knochen, weiter unten ein gezerrter Muskel. Meine Füße und mein Rücken waren relativ heil davongekommen, bloß ein paar leichte
    Blutergüsse entlang der Wirbelsäule. Meine Weichteile waren ebenfalls unbeschädigt, wofür ich dem Schicksal unendlich dankbar war.
    Also stand ich erst mal einfach nur da und sog erleichtert die zwar nicht allzu frische, aber reichliche Luft des Krankenzimmers in mich hinein.
    Ich warf einen Blick auf mein zerwühltes Bett. Nein, da wollte ich vorerst nicht mehr rein, der Traum stand mir noch viel zu lebhaft im Gedächtnis, viel zu nahe; ich wusste, er würde wiederkommen, wenn ich jetzt erneut einschliefe. Was ich tunlichst vermeiden würde. Ich streckte mich ganz behutsam und vorsichtig.
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