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Wo niemand dich sieht

Titel: Wo niemand dich sieht
Autoren: Catherine Coulter
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Jede Bewegung tat höllisch weh. Ich holte tief Luft und trat dann ans Fenster. Mein Zimmer lag im neueren Krankenhausflügel, der etwa Mitte der Achtziger dem alten, in den Dreißigerjahren erbauten Gebäude hinzugefügt worden war. Jeder hier beklagte sich darüber, endlos lange Wege zurücklegen zu müssen, wenn man irgendwohin wollte. Ich wünschte, ich könnte auch nur ein kurzes Stück davon zurücklegen und mitmeckern.
    Aus dem fünfstöckigen Parkhaus gegenüber drangen vereinzelte Lichter. Das Parkhaus war, ebenso wie ein halbes Dutzend Nebengebäude, durch lange Korridore mit dem Krankenhaus verbunden. Von dort, wo ich stand, sah ich lediglich ein paar vereinzelte Autos drinnen stehen. Überall auf dem gepflegten Grundstück waren Straßenlaternen aufgestellt worden, selbst zwischen den Bäumen. Ein schlechtes Terrain für Straßenräuber und Sittlichkeitsverbrecher, so viel war klar. Dafür war es überall zu hell.
    In meinem Traum dagegen war es dunkel gewesen, eine nasse, unheimliche Dunkelheit. Mit langsamen, mühsamen Schritten schleppte ich mich in das kleine Bad, beugte mich vor, hielt die Hände schüsselförmig unters laufende Wasser und trank tief und gierig. Als ich mich wieder aufrichtete, rann mir das Wasser übers Kinn und tropfte mir auf die Brust. Ich hatte geträumt, ich würde ertrinken, aber meine Kehle war ausgedörrt, als wäre ich noch immer in der staubtrockenen, sandigen Luft Tunesiens. Verrückt.
    Außer, ich war nicht derjenige, der ertrunken war. Ganz plötzlich wusste ich es, wusste es ohne jeden Zweifel. Ich war nicht derjenige, der ertrunken war. Aber ich war dabei gewesen.
    Ich blickte mich um, in der Erwartung, jemanden hinter mir stehen zu sehen, jemanden, der mich gerade antippen wollte. Seit über zwei Wochen, seit mich diese Bombe über den Wüstensand gepustet hatte, war ständig irgendjemand an meiner Seite gewesen, hatte beruhigend auf mich eingeredet, hatte mir eine Spritze gegeben, so viele Spritzen, dass mir die Arme schon wehtaten und mein Hintern an einigen Stellen ganz taub war.
    Ich trank noch ein wenig mehr, hob dann langsam meinen Kopf, stets darauf bedacht, ja keine schnellen Bewegungen zu machen. Ich starrte den Mann im Spiegel über dem Waschbecken an. Ich sah zum Kotzen aus, grau wie Haferschleim und total eingefallen, fast wie ein Gespenst. Normalerweise glotzte mir ein kerngesunder, ziemlich großer und muskulöser Kerl aus dem Spiegel entgegen, aber dieser Typ da sah ja aus wie ein Handtuch. Wie ein Klappergestell. Eine Ansammlung von Knochen. Ich grinste ihn an. Na, zumindest hatte ich noch alle Zähne, und gerade waren sie obendrein. Ich konnte von Glück reden, dass mir die Beißerchen nicht aus dem Kiefer geklickert waren, als die Bombe explodierte und mich wie einen leeren Sack fast fünf Meter weit über den Sand geschleudert hatte.
    Wenn mich mein Freund Dillon Savich, auch FBI-Agent wie ich, so im Fitnessstudio sah, würde er wahr-scheinlich nur den Kopf schütteln und mich fragen, wo zum Teufel ich meinen Sarg geparkt hätte. Es dauerte mindestens noch sechs Monate, bis ich wieder so weit war, auch nur annähernd mit diesem Kraftbolzen im Fitnessraum mitzuhalten.
    Ich holte tief Luft, trank noch ein paar Schlucke und knipste dann das Licht im Bad wieder aus. Die Gestalt im Spiegel war jetzt nur noch schemenhaft zu erkennen. Eine eindeutige Verbesserung. Ich drehte mich um, schleppte mich zurück ins Zimmer, wo in einem deutlichen Umriss das Bett auf mich lauerte, daneben die riesige rote Zahl auf der Digitaluhr, die mir Freunde mitgebracht hatten, mit einer dicken roten Schleife drumrum. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Sieben Minuten nach drei. Mir fiel wieder ein, was Sherlock, Savichs Frau und ebenfalls FBI-Agentin, gesagt hatte, als ich gerade einen klaren Moment in meinem morphin-induzierten Dämmerzustand hatte. Jede Minute, die diese Uhr verschlang, würde mich ein wenig näher an den Zeitpunkt bringen, an dem ich dieses Scheißkrankenhaus endlich wieder verlassen und zur Arbeit zurückkehren könnte, wo ich gefälligst hingehörte.
    Ich schlurfte zum Bett und drapierte meine einzelnen Gliedmaßen vorsichtig in die Waagerechte. Mit der linken Hand zog ich mir das Laken und die dünne Decke über den Körper. Ich versuchte mich zu entspannen, vor allem meine verkrampften Muskeln. Nein, ich hatte nicht die Absicht, wieder einzuschlafen. Ich schloss die Augen und versuchte klar und logisch über den Traum nachzudenken. Ja, ich hatte Wasser
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