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Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman

Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman

Titel: Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
Autoren: emons Verlag
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Prolog
    Die Kolonie Neu-Germanien in Paraguay, im Juli 1889
    Als die Brüllaffen in den Baumwipfeln aufschrien, als die Papageien und Aras einstimmten und es ringsum in den Büschen zu rascheln begann, stand er stocksteif da und lauschte in die Ferne. Etwas hatte die Tiere aufgeschreckt, etwas hatte sie alarmiert, aber so angestrengt er in das grüne Dickicht auch horchte, er konnte kein Geräusch ausmachen, das menschlichen Ursprungs war und ihm gefährlich werden konnte.
    Mehrmals atmete er tief durch, um sich wieder zu beruhigen. Dabei erinnerte er sich daran, dass er sich am Morgen vorgenommen hatte, sein Tagewerk zu verrichten, als wäre nichts geschehen. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, griff nach dem Schaufelstiel und stieß das stählerne Blatt in die rote Erde, um die Arbeit am Entwässerungsgraben fortzusetzen. Den Aushub warf er über seine Schulter zurück, wo er im Schlamm landete.
    Natürlich war ihm klar, dass er einige Siedler gegen sich aufgebracht hatte. Als Trunkenbolde, Lüstlinge und Betrüger hatte er sie bezeichnet. Nach der Versammlung hatten sie ihm aufgelauert und ihn am Kragen gepackt. Während sie ihn gegen die Hauswand gestoßen hatten, hatten sie ihn wüst beschimpft. Er wusste nicht, ob sie ihren Drohungen auch Taten folgen lassen würden, aber er befürchtete das Schlimmste.
    Trotzdem war es richtig gewesen, das Wort zu ergreifen. Er war es seinem verstorbenen Mentor Bernhard Förster, dem Gründer der Kolonie Neu-Germanien, den ehrbaren Siedlern und sich selbst schuldig gewesen, auf den Sittenverfall hinzuweisen. Der plötzliche Tod ihres Führers hatte nichts an den Möglichkeiten geändert, die sich ihnen hier boten und die sie im Überlebenskampf der weißen Rasse nutzen mussten.
    In Deutschland hatten sie seit Jahrhunderten eine Herabstufung durch die Vermischung mit Juden und anderen Völkern hinnehmen müssen. Hier, in den abgeschiedenen Wäldern von Paraguay, konnten sie ihr Blut reinigen und ihre rassische Überlegenheit zurückerlangen. Hier konnten sie sich auf Tugenden wie Heldenmut, Opfersinn, Pietät und Treue besinnen. Hier konnte ein neues Germanien entstehen, das eines Tages die Welt beherrschen würde.
    Er verscheuchte einige Bremsen von seinen nackten Beinen. Dann grub er mit wiedererstarkter Zuversicht weiter. In dieser Wildnis hatte er zum ersten Mal erfahren, dass er etwas mit seinen Händen schaffen konnte. Das Ergebnis seiner Anstrengungen zu betrachten, erfüllte ihn jedes Mal mit einem Stolz, den er in Deutschland nicht gekannt hatte.
    Da ertönte von weit her die Stimme einer Frau. »Wo bist du!«, rief sie. »Komm zu mir. Ich will dir etwas sagen. … Wo bist du? Komm zu mir. Ich will dir etwas sagen. … Wo bist du? Komm zu mir. Ich …« Die Sätze wiesen eine starke Akzentfärbung auf. Vermutlich handelte es sich um eine Indianerin, die normalerweise Guaraní sprach. Der Tonfall war seltsam monoton. Plötzlich erkannte er die Frau. Er wusste auch, wer ihre Beschützer waren. Sie waren also gekommen.
    Obwohl er mit ihrer Ankunft gerechnet hatte, spürte er Panik in sich aufsteigen. Er wollte weglaufen, weit weg von hier. Doch in welche Richtung sollte er sich wenden? Wohin sollte er fliehen? Er war von Sümpfen umgeben. Nach Försterrode musste er mehrere Lagunen mit brusthohem Wasser durchqueren, in denen sich Schlangen tummelten. Einen ganzen Tag würde er brauchen, ehe er das Dorf erreichte. Doch auch bei Elisabeth Förster, der Ehefrau seines verstorbenen Mentors, würde er keinen Schutz finden. Die Schwester des berühmten Philosophen Friedrich Nietzsche hatte ihn nach der Versammlung zur Seite genommen und ihm gesagt, dass er durch seine Zwischenrufe die Lage zugespitzt hätte. In ihrem Krämerladen bräuchte er sich nicht mehr blicken zu lassen.
    »Wo bist du?«, rief die Indianerin wieder. »Komm zu mir. Ich will dir etwas sagen. … Wo bist du? Komm zu mir …«
    Alles, was ihm jemals etwas bedeutet hatte, befand sich auf diesem fünfzig Quadratcuadros großen Weide- und Ackergut, das er vor zwei Jahren für den Preis von dreihundert Mark erworben hatte. Hier, in der Stille des Waldes, hatte er sich zum ersten Mal heimisch gefühlt. Es störte ihn nicht, dass das Brunnenwasser brackig schmeckte. Er gab sich vollkommen mit dem zufrieden, was die Natur für ihn bereithielt. Wenn sie ihn von hier vertreiben würden, dann wäre er entwurzelt.
    Mit klopfendem Herzen sammelte er sein Werkzeug ein und stolperte auf den
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