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Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman

Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman

Titel: Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
Autoren: emons Verlag
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Funke und dem neuen Kriminaldirigenten ins Gedächtnis rufen müssen, dass er lediglich das äußere Erscheinungsbild von Straftätern studierte. Aus seinen Beobachtungen zog er Rückschlüsse auf seelische Vorgänge und konnte so herausfinden, ob jemand log oder sich in Widersprüche verwickelte. Die Verbrecherphänomenologie konnte keine polizeiliche Ermittlung ersetzen; sein Forschungsansatz war ein Hilfsmittel zur Hinterfragung eines Verdachts.
    Dieser Qualifikation entsprechend hatte er sich zu einem Verhörspezialisten entwickelt, der in wichtigen Fällen zurate gezogen wurde, wenn eine polizeiliche Befragung zu keinen Ergebnissen geführt hatte. Seine Vorgehensweise war im Grunde einfach: Zuerst beobachtete er die Körpersprache, dann deutete er sie, und schließlich entwarf er eine Strategie, um den Verdächtigen zu einer Aussage zu bewegen. Dazu schlüpfte er in unterschiedliche Rollen. Er war schon als väterlicher Freund, als Lüstling und als gewaltbereiter Schläger in das Verhörzimmer getreten. Vermutlich sollte er auch heute jemanden befragen.
    Nachdem sie das Polizeipräsidium erreicht hatten und aus der Kutsche gestiegen waren, begab sich Otto auf kürzestem Weg zum Büro des Commissarius.
    »Guten Tag«, sagte er, nachdem er kurz angeklopft hatte und eingetreten war. »Da sind wir.«
    » Ah, mon cher Monsieur Sanftleben. Je suis très heureux , dass Sie es einrichten konnten«, sagte Commissarius Funke und ließ schnell eine Flasche Eierlikör in der Schublade seines Schreibtischs verschwinden. »Sie können ja nicht ahnen, in was für einer Klemme ich stecke. Aber bitte, bitte nehmen Sie doch Platz, mein Lieber. Kann ich Ihnen etwas anbieten? Einen Bohnenkaffee vielleicht oder ein Tässchen Tee?«
    »Es wäre mir lieber, wenn wir gleich zur Sache kommen könnten. Warum sollte Moses mich begleiten? Er ist doch sonst nicht dabei, wenn Sie meine Dienste benötigen«, sagte Otto und setzte sich auf den harten Stuhl. Abgesehen von den Stiefmütterchen auf der Fensterbank zeichnete sich die Einrichtung durch eine nüchterne Zweckmäßigkeit aus. Seit seinem letzten Besuch hatte sich nichts verändert – ganz im Gegenteil zum Commissarius.
    Entgegen seinem sonstigen Hang zu allerlei modischem Tand trug er heute nicht einmal Ringe an den Fingern. Sein Anzug war von einem unscheinbaren Grau, und in der Brusttasche steckte ein gewöhnliches weißes Dreieckstuch, das sich auch zum Naseputzen eignen würde. Die sonst so glänzende kohlrabenschwarze Perücke war durch Puder ergraut. Er schien neuerdings den Wunsch zu hegen, sich so unscheinbar wie möglich zu kleiden. Otto rief sich ins Gedächtnis, dass er nicht hier war, um Funkes Verhalten zu analysieren.
    »Warum Ihr Leibdiener mitkommen sollte?«, sagte der Commissarius fahrig. »Durch seine Herkunft kann er möglicherweise einen wertvollen Beitrag zur Aufklärung des Falles leisten. Sie haben doch vom Mord im Zoologischen Garten gelesen, Herr Doktor? Und du auch, Moses?«
    »Natürlich haben wir das«, erwiderte Otto. »Salomon Hirsch und sein Zeitungsimperium waren deutschlandweit bekannt, aber ich verstehe nicht, was mein Leibdiener damit zu tun haben könnte.«
    »Nun, wir haben gestern einen jungen Mann festgenommen. Er ist Herero und gehört zu den Schaunegern, die für die Deutsche Kolonial-Ausstellung in Treptow angeworben wurden. Einerseits soll Moses mir einige Fragen zu den Sitten und Gebräuchen seines Volkes beantworten, andererseits soll er Ihnen beim Verhör hospitieren. Ich hoffe, dass seine Anwesenheit den Verdächtigen günstig beeinflusst. Der Mann will oder kann kein Alibi nennen.«
    »Hätte das nicht Zeit bis Montag gehabt?«, fragte Otto.
    »Sie verkennen die Lage. Die Berliner Gewerbeausstellung zieht zurzeit Millionen Besucher aus aller Welt an, die sich in unserer Stadt sicher fühlen sollen. Der Polizeipräsident war heute Morgen in meinem Büro, um mich von allen anderen Fällen zu entbinden und mir jedwede Unterstützung zuzusagen.«
    »Was wollen Sie denn wissen?«, fragte Moses.
    »Bringen Hereros Menschenopfer dar?«, erwiderte der Commissarius.
    »Das ist doch typisch«, platzte Moses heraus. »Alle Deutschen glauben, dass wir unsere Gefangenen wie Schweine mästen, um sie dann mit Butter einzureiben, aufzuspießen und über einem Feuer zu rösten, bis sie schön knusprig sind.«
    » Mon Dieu  – nein«, rief Commissarius Funke. »Du hast mich völlig falsch verstanden, mein Lieber. Es lag mir fern, dir und deinem Volk
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