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Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman

Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman

Titel: Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
Autoren: emons Verlag
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derartige Barbareien zu unterstellen. Es ist vielmehr so, dass Salomon Hirsch vermutlich Opfer einer rituellen Tötung wurde. Ich möchte lediglich herausfinden, ob unser Verdächtiger, äh, sagen wir mal, über einschlägige Erfahrungen verfügt.«
    »Also doch«, sagte Moses. »Dann lassen Sie sich gesagt sein, dass wir Ehrfurcht vor unseren Vorfahren haben. Damit sie uns wohlgesonnen sind, bringen wir ihnen Opfer dar. Die armen Viehtreiber füllen eine Schüssel mit gerösteten Heuschrecken und stellen sie über Nacht nach draußen. Die reichen Züchter schlachten einen Ochsen, aber ich kann Ihnen versichern, dass nie ein Mensch getötet wurde. Das ist auch gar nicht nötig. Wenn die Ahnen unzufrieden sind, wird einfach ein Zauberer geholt, der mit Beschwörungsformeln, Amuletten und Tänzen den Frieden wiederherstellt. Wurden dem Toten die Hände und Füße zusammengebunden?«
    »Wie kommst du darauf?«
    »Die Hereros fürchten sich vor der Wiederkehr von bösen Menschen, die als Geister in der Dunkelheit umherwandeln und schlimme Dinge tun. Um das zu verhindern, steckt man dem Toten den Kopf zwischen die Knie und schlingt seine Arme eng um die Schienbeine. Dann schnürt man ihn zu einem Paket zusammen. So kann er sich nicht selbst befreien. Will man ganz sichergehen, zertrümmert man ihm auch noch die Wirbelsäule.«
    »Die Wirbelsäule, sagst du?«
    »Ist das bei Salomon Hirsch passiert?«, fragte Otto.
    »Nein, nein«, erwiderte der Commissarius, »aber der Täter ging ähnlich brutal vor. Zunächst hat er das Opfer über einen breiten Stein gelegt, der mich in seinen Ausmaßen an einen Altar erinnert hat. Dann hat er die Rippen beidseits des Rückgrats durchtrennt und sie nach außen geborgen. Zuletzt hat er dem armen Salomon Hirsch beide Lungenflügel aus dem Brustkorb gerissen.«
    »Das ist ja furchtbar«, sagte Otto. »Warum hat Hirsch sich nicht gewehrt? Oder war er schon tot?«
    »Anhand der Blutspuren können wir mit Sicherheit sagen, dass er noch lebte, als ihm die Verletzungen zugefügt wurden«, erwiderte Funke. »Gleichzeitig weist er weder Abwehrverletzungen noch sonstige Prellungen oder Quetschungen auf, die auf einen Kampf hindeuten. Deshalb gehen wir davon aus, dass der Täter sein Opfer betäubte.«
    »Nach einem Ritual der Hereros hört sich das jedenfalls nicht an«, sagte Moses.
    »Wäre es nicht denkbar«, sagte der Commissarius, »dass er die Lunge herausgerissen hat, um zu verhindern, dass der Getötete als Geist wiederaufersteht?«
    »Brauchen denn Geister ihre Lungen?«, fragte Otto. »Ich meine, wenn man davon ausgeht, dass sie überhaupt existieren und dass sie in der Dunkelheit umherwandeln können.«
    Moses zuckte mit den Achseln.
    »Jaja«, sagte der Commissarius. »In diesem Fall gibt es viele Dinge, die wir noch nicht verstehen. Deshalb ist es umso wichtiger, eine solide Polizeiarbeit abzuliefern. Der Tatverdächtige sagt aus, dass er den Mord nicht begangen hat. Ein Alibi für die Tatzeit will er jedoch nicht angeben. Von Ihnen, Herr Doktor, möchte ich wissen, ob der Mann lügt und ob Sie ihm diese Tat zutrauen. Hier ist die Akte. Nehmen Sie sich Zeit und studieren Sie meine Aufzeichnungen in Ruhe. Ich werde in der Zwischenzeit dafür sorgen, dass der Verdächtige in eines der Vernehmungszimmer gebracht wird.«
    Während Funke den Raum verließ, schlug Otto den Aktendeckel auf und vertiefte sich in die Aufzeichnungen. Der Commissarius hatte eine sehr eindrucksvolle Tatortskizze angefertigt. Den Bericht des Gerichtsarztes hatte er kommentiert und eine detaillierte Zeichnung der Verletzungen beigefügt. Er hatte alle Beweise und Umstände notiert, die den Tatverdächtigen belasteten. Außerdem seine persönlichen Daten, die in keiner Weise der Vorstellung entsprachen, die sich die Deutschen von einem »Wilden« aus der Kolonie machten.
    Wilhelm Maharero, so hieß der Tatverdächtige, war ein Sohn des Paramount Chiefs Samuel Maharero, des obersten Führers der Hereros in Deutsch-Südwestafrika. Er war zweiundzwanzig Jahre alt und hatte eine umfangreiche Ausbildung von Missionaren erhalten. Er war in der Bibel ebenso bewandert wie in der deutschen Sprache und in Mathematik. Der Commissarius hatte mehrere Hypothesen zum Motiv Wilhelm Mahareros aufgestellt, die allesamt wenig Überzeugungskraft besaßen.
    Es dauerte wohl eine halbe Stunde, bis der Commissarius wieder ins Büro trat und sagte: »Es ist alles vorbereitet. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«
    Otto erhob sich von einem
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