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34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

Titel: 34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
Autoren: Annika Reich
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    Manchmal tauchte sie ab, um in einem anderen Leben wieder aufzutauchen. Sie konnte das – verschwinden und wieder auftauchen in einem anderen Leben. Meist verschwand sie nur in ihren Gedanken, aber manchmal verschwand sie auch ganz und gar. Und wenn sie dann wieder auftauchte, strahlte sie, erzählte von Unfällen und Zufällen und streichelte dabei mit flachen Fingerkuppen sein Bein. Wenn sie wieder auftauchte, berührte ihr Arm seinen Arm, ihr Fuß seinen Fuß, ihre Schulter seine Schulter, als müsste ihr Körper sich vertäuen. Manchmal brach sie mitten in der Erzählung ab, um ihn zu küssen, manchmal schaute sie traurig, schwieg eine Weile oder lächelte vor sich hin; und manchmal war sie so erschöpft, dass sie gleich neben ihm einschlief, zusammengerollt wie eine Katze.
    Als Paul sie das erste Mal sah, glich Ella einem Knaben mit langem, braunem Haar, der sich die hohen Schuhe seiner Mutter ausgeliehen hatte. Sie wirkte anders als die Frauen, die er sonst kennenlernte, entrückter und frischer zugleich. Sie erinnerte ihn an Holly Golightly aus Frühstück bei Tiffany – wie sie mit Schlafbrille auf der Stirn und Stöpseln in den Ohren aus ihrer Wohnung blinzelte. Ella war genauso orientierungslos und mit allen Wassern gewaschen wie Holly. Beide hatten grün-braun-blau gesprenkelte Augen und diese ungelenke Eleganz; nur war Ella eben eine Berliner Holly, die gerade ihr Studium beendet hatte und schmale, seidige Hosen, weich fallende T-Shirts und hellgrüne Haarbänder trug – von Cocktailkleid und Perlenkette keine Spur.
    Beim zweiten Rendezvous schenkte Paul Ella eine Schlafbrille. Sie ließ den türkisblauen Samt den ganzen Abend auf der Stirn, strich immer wieder darüber und tastete den Rand ab, doch erst beim Abschied fragte sie, warum er ihr eine Schlafbrille geschenkt habe. Er erzählte ihr von Holly, und sie schaute ihn ungläubig an: »Frühstück bei Tiffany?« Sie konnte keinerlei Ähnlichkeit zwischen Holly und sich feststellen und fand den Vergleich trotzdem überzeugend.
    Sie ließ sich ohnehin leicht überzeugen, behauptete sich nicht, und doch war sie eine der unabhängigsten Frauen, der er je begegnet war. Sie glaubte nicht an Standpunkte, sondern daran, dem Lauf der Dinge zu folgen, und manchmal folgte sie dem Lauf der Dinge so lange, bis sie verschwand; und manchmal verschwand sie dabei so lautlos, als gäbe es in ihrem Leben eine Katzenklappe, durch die sie unbemerkt auf Streifzüge gehen konnte. Unheimlich war das, und immer und immer wieder verlockend.
    Ellas Flüchtigkeit blieb ein Rätsel für ihn. Fühlte sie sich von anderen Menschen bedrängt, entzog sie sich; fühlte sie sich von ihnen im Stich gelassen, entzog sie sich. Nie machte sie eine Szene, nie gab es Streit. Paul hatte noch nie eine Frau kennengelernt, die gleichzeitig so viel Nähe und so viel Distanz brauchte. Einmal hatte sie zu ihm gesagt, dass sie sich schlichtweg weigerte, sich selbst, das Leben und die Menschen, die sie liebte, festzunageln, um ihnen nahezukommen.
    Paul saß in der Küche von Horowitz’ Wohnung. Es war schon spät, der Abend des zweiten Weihnachtsfeiertags, er hatte gerade mit Ella telefoniert. Die Wohnung war noch festlich geschmückt, in dem Zimmer, das der »große Salon« genannt wurde, stand ein ausladender, mit Kugeln behängter Weihnachtsbaum, auf dem Küchenboden eine Tüte vollgestopft mit zerrissenem Geschenkpapier.
    Nach dem Telefonat hatte er seine Sachen gepackt und den Kühlschrank leer geräumt. Er wollte zurück in seine Wohnung fahren, hier hatte er nun nichts mehr verloren. Doch dann hielt er inne, schenkte sich ein letztes Glas Wein ein und dachte über ein Gespräch nach, das er einmal mit Ella und Horowitz geführt hatte. Als Meisterin der Selbsterzählung hatte Horowitz Ella damals beschrieben, als eine Frau, die das besondere Talent besaß, sich ihr Leben zu wünschen. Und tatsächlich malte Ella die Welt in bunteren Farben aus, als der Alltag sie vorzeichnete. Dass sie mit dieser Fähigkeit nicht nur ihn und Horowitz, sondern sogar sich selbst um den Finger wickelte, war kein Wunder. Es gab kaum etwas Schöneres, als mit jemandem zusammen zu sein, der sich sein Leben so wünschte. Wahrscheinlich war das auch der Grund, warum er nicht mehr ohne sie sein wollte, auch wenn er ihr gerade am Telefon etwas anderes zu verstehen gegeben hatte.
    Paul stand auf, ging aus der Küche in den »großen Salon« und schaute auf den Weihnachtsbaum und das große, leerstehende Aquarium,
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