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Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein
Autoren: Raouf Khanfir
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Mischung aus Staub und Körpersäften, die man nicht länger als nötig aushalten muss. Er dreht sich einmal um die eigene Achse und stellt sich vor, wie es wäre, den Inder ins Gesicht zu schlagen. Kein Fenster weit und breit. Schließlich geht er zurück in seine Küche und knallt die Tür hinter sich zu. Im Vestibül sind nur noch die leisen und durch die Türen nochmals gedämpften Geräusche der Bewohner zu hören. Rasseln, Schaben, Schlürfen, Räuspern, Tröpfeln und so weiter, alles sehr leise. Weder die Türen noch das Sofa laden irgendjemanden zu irgendetwas ein. Er pinkelt in das Spülbecken, und der Tag kann beginnen. Mit einer Tasse Kaffee setzt er sich raus auf die große Holzterrasse, die zu seiner ansonsten kleinen Wohnung gehört. Die nackten Füße legt er auf das Geländer und lässt sie von den schon kräftigen Strahlen der Morgensonne wärmen. Die Augustmiete steht noch aus, 225 Dollar. An sich zu viel, aber wenn er bei schönem Wetter draußen sitzt und in die Ruelle blickt, findet er den Preis nicht zu hoch. Die Ruelle ist eine den meisten Wohnstraßen zugehörige kleine Gasse, die sich hinter den Häusern ebenso wie die eigentliche Straße kilometerlang, meist in gerader Linie, durch die Stadt zieht. Der Wind, der hier weht, hat immer genau die richtige Temperatur. Die Ruelle ist voll und leer. Es passiert etwas, aber meist bekommt er nicht direkt mit, dass etwas passiert. Überall sind Abdrücke von Mensch und Tier, doch ist es selten, dass er ein Exemplar zu Gesicht bekommt. Ein Schatten hinter einem weißen Bettlaken, das Jaulen eingesperrter Haustiere, so etwas in der Art. Große Teile des Sommers hat er mit diversen Getränken auf seiner Terrasse verbracht, umgeben von sichtbarer Geschäftslosigkeit und unsichtbarer Geschäftigkeit. Nur weil du es nicht sehen kannst, heißt das nicht, dass es nicht da ist. Für ihn heißt das noch nicht einmal, dass er seinen Kaffee oder sein Bier wegstellt, aufsteht, sich übers Geländer lehnt und um die Ecke blickt, geschweige denn runter in die Ruelle steigt. Als er noch sehr jung war, war das schon so, und wenn er die Dinge, die kommen, überleben und alt werden sollte, wird es immer noch so sein. Marco H. ist keiner, der sich einmischt, und im Moment glaubt er an das Glück, sich nirgendwo einmischen zu müssen. Seit etwas über einem Jahr lebt er in Montreal und kennt die Stadt gut genug, um zu wissen, wo er das bekommen kann, was er sucht. Er steht auf, geht zur Kaffeekanne und setzt sich wieder hin. Die zweite Tasse nennt er liebevoll »deuxieme gorgee«, der dritten gibt er keinen Namen mehr. Für heute sieht der Plan folgendermaßen aus: Zuerst am Automat Geld holen, später Madame Lapointe die Miete nach unten bringen und am Abend zu einem Konzert.
     
    Die Taschen voller Geld, klopft er am frühen Nachmittag an die Tür seiner Vermieterin. Madame Lapointe bewohnt die untere Etage, von der er nur den Flur kennt. Wie üblich passiert nach dem Klopfen erst einmal nichts. Er ruft ihren Namen direkt etwas lauter, denn er weiß, dass sie nicht gut hört. Nach einer Weile fängt der Boden unter seinen Füßen an zu zittern, und die Vermieterin tritt dermaßen schwankend in den Flur, als befänden sie sich in einem der unzähligen Gänge im Rumpf eines abgehalfterten Ozeanriesen bei Windstärke 11. Sie poltert den Flur entlang, und er ist gewarnt, als sie die Tür aufreißt. »Monsieur H.« hat sie gestört, er stört sie immer. Als hätte er sie aus einem schönen Traum geholt oder die Verantwortung dafür, dass sie schon seit langem nicht mehr träumt und vielleicht nie mehr träumen wird, fragt die Lapointe, mit einer Stimme wie ein feuchter Zigarrenstummel, was er wolle (als ob sie das nicht wüsste, am Ende des Monats). Sie gibt sich nur wenig Mühe, dabei nicht so ärgerlich zu klingen, wie sie ist. Vielleicht ist es auch umgekehrt, und es bereitet ihr Vergnügen, ihn mit ihrer nur vorgetäuscht schlechten Laune einzuschüchtern. Madame Lapointe ist eine Art verletzter Elefant, eine Gleichung mit zu vielen Unbekannten.
    Wie Kontaktlinsen in einem Abfluss verschwindet das abgezählte Geld in ihren dicken Händen. Obwohl er keine besondere Beziehung zu Geld hat, tun ihm die Scheine beinahe leid. Mit ihren kleinen dicken Händen stopft Madame Lapointe sie in eine der Taschen ihrer immer geblümten Kleidung. Ein letztes Knistern ist zu hören, und weg sind sie. Ob sie je wieder auftauchen? Vielleicht verschwinden sie auch auf Nimmerwiedersehen in
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