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Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein
Autoren: Raouf Khanfir
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zweite Tasse immer besser schmeckt. Die ersten Schlucke machen ihn wach, aber das könnte Tee oder Wasser genauso gut, den eigentlichen Kaffeegeschmack kann er erst bei der zweiten Tasse genießen. »Wo steckt der verdammte Köter?« Er denkt es mehr, als dass er es sagt. Eigentlich ist er gerne mit dem Hund zusammen, das Tier gehört schon lange zur Familie. Der Hamster-Hund kläfft ein bisschen vor sich hin, und das Herrchen entdeckt ihn an der Böschung hoch zur Landstraße. So nah traut sich das kluge Tier sonst nicht an die Straße heran. Was die Straße angeht, scheint es etwas Elementares begriffen zu haben. Was hat er jetzt schon wieder gefunden? Ohne ernsthaft mit einer Reaktion zu rechnen, ruft das Herrchen den Namen des Hundes und macht sich mit ausladenden Schritten auf den Weg. Beim Näherkommen erkennt er von weitem einen Körper, um den der kleinere Hundekörper aufgeregt herumspringt. Der Menschenkörper liegt schräg an der Böschung zwischen den dürren, kahlen Bäumen, die man vor nicht allzu langer Zeit dort gepflanzt hat. Der Menschenkörper hat kein Gesicht mehr. Das, was der Kopf war, mit Augen, Nase, Backen und Wimpern, ist eine erstaunlich plattgefahrene, in verschiedenen Rottönen leuchtende Masse im Schnee. Die Schnauze des Hamster-Hundes, der ihm den Fund präsentiert und ihn mit treuen Hundeaugen neugierig anblickt, ist blutbeschmiert. Etwas Hassenswerteres als die blutige Schnauze seines schwanzwedelnden Hundes hat das Herrchen in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Die dunklen Hundeaugen sind eine Mauer, da kann man ein Geist sein, so viel man will. Auf ihrer glänzenden gewölbten Oberfläche rutscht man ab wie auf Eis. Das Herrchen schwankt und lässt sich auf die Knie fallen, eine Bewegung, die er schon seit Jahren nicht mehr gemacht hat. Er packt das Tier und schrubbt das Gesicht des kläffenden und um sich schnappenden Hundes mit Schnee, dabei schreit er ihn immer wieder an, er solle stillhalten. Aber das Tier hält nicht still, das tun sie nie.
     
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    Marco H. hätte sich schon längst ein paar Hausschuhe besorgen sollen. Gerade steht er barfuß auf dem versifften Teppich und rüttelt an der verschlossenen Tür zum Badezimmer. Der Teppich klebt unter seinen Füßen, die er abwechselnd hebt und senkt, erst den linken, dann den rechten. Es ist zwecklos, der alte Inder von gegenüber ist ihm zuvorgekommen, und das zum dritten Mal in dieser Woche. Selbst durch die geschlossene Tür braucht es kaum Phantasie, um den Alten dabei zu beobachten, wie er eine Zeremonie daraus macht, sich zu waschen, wie er einen genau festgelegten Zeitplan einhält und wie jeder seiner Handgriffe sitzt. Der alte Inder ist ein Phänomen in der Hausgemeinschaft, in die es Marco H. in Montreal verschlagen hat. Niemand sonst auf der Etage wäscht seinen Körper mit einer ähnlichen Ruhe und Gelassenheit. Niemand sonst hält es so lange in dem Badezimmer aus. Das notorische Plätschern und melodische Tröpfeln, dazu die überlegene Lautlosigkeit. Obwohl er genau weiß, dass sich die Tür in der nächsten halben Stunde nicht öffnen wird, steht er noch eine Weile in dem ockergelben Quadrat und hebt in ganz eigener Rhythmik seinen jeweiligen Fuß. Die undefinierbare Farbe der fünf alten Holztüren ist schon halb abgeblättert. In einer Ecke des quadratischen Flurs ist ein Loch im Boden, von dem aus eine knirschende Treppe nach unten und in die Welt hinaus führt. Die Treppe stöhnt jedes Mal, wenn er sie benutzt. Es gibt Tage, da klingen die Geräusche in seinen Ohren wie eine Maßregelung, als hätte er eine stillschweigende Abmachung missachtet. Nachts knirscht die Treppe auch von allein vor sich hin. Die Bewohner der Etage stehen dann hinter ihren Türen und hören zu. An der Seitenwand am Treppenaufgang steht ein blasses, rotes Sofa, auf dem er noch nie gesessen hat, auf dem noch nie einer der Bewohner gesessen hat, zumindest keiner von denen, die zurzeit hier wohnen. Die meisten scheinen auf der Durchreise zu sein, das Sofa nicht, ebenso wenig wie der weißhaarige Inder. Er wohnte schon vor ihm hier und wird es auch nach ihm noch tun. Das Gleiche gilt für den Mann, dessen Türe am Tage immer verschlossen bleibt. Der verlässt sein Zimmer nur nachts. Er glaubt zu wissen, dass der Mann seine Tür nur jede vierte Nacht öffnet, denn dann herrscht in den Morgenstunden im Vestibül der süßliche Gestank, den vollgestopfte Räume verbreiten, in denen Leute leben, die sich nicht waschen. Eine intensive
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