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Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein
Autoren: Raouf Khanfir
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die Tür hinter ihm ins Schloss und erweckt nicht den Eindruck, sich demnächst wieder zu öffnen. Übrig bleiben ein Hauch des charakteristischen Geruchs aus seinem Zimmer und kleine dunkelgrün-feuchte Abdrücke seiner nackten Füße auf dem grünen Teppich, die seinen seltsamen Weg durch den Raum nachzeichnen. Nachdem der aufgewirbelte Staub sich gelegt und Marco H. einen kleinen Hustenanfall hinter sich gebracht hat, steht er auf und geht vorsichtig auf dem vorgezeichneten Weg bis zur Tür des Mannes, fällt beinahe, kann sich aber halten und klopft. Drinnen rührt sich zwar etwas, die Tür aber bleibt verschlossen. So weit, ein weiteres Mal zu klopfen, würde er allerdings selbst in seinem jetzigen Zustand nicht gehen. Daher erklärt Marco H. diesen Tag für beendet.
     
    Kaum ist er eingeschlafen, sieht er durch einen sanft bewegten Schleier die Tür des Mannes, dessen Türe tagsüber immer geschlossen bleibt, erneut aufgehen. Festen Schrittes durchschreitet der frisch geduschte Nachbar nun gemeinsam mit dem Sänger das Vestibül, dann Marcos kleine Küche, um sich schließlich direkt bei ihm auf die Bettkante zu setzen. Die Haare des Nachbarn sind mittlerweile trocken und offensichtlich geföhnt, da sie in lockeren Wellen auf seinen Schultern liegen. Er duftet frisch und trägt ein schlichtes beiges Gewand. Von dem Sänger ist nur der blanke und noch immer verschwitzte Oberkörper zu sehen, und Marco H. wundert sich über seinen Drei-Tage-Bart, den er so nicht in Erinnerung hatte.
    »Hey«, sagt der Sänger mit erstaunlich ruhiger Stimme, »deine Großtante Emma war einer der tollsten Menschen, die ich je kennengelernt habe. Das Haus ist wunderschön, wenn ich nicht gerade in Chicago leben würde, würde ich ins Wittgensteiner Land ziehen.« Benommen reibt sich Marco H. den Schlaf aus den Augen, bevor er sich mit dem Handrücken den Mund abwischt. Zwischen seinen Fingern windet sich eine regenwurmlange, kunstvoll verknotete Ramennudel, die so tut, als ob sie leben würde. Die Blicke der drei kreuzen sich, als ob es das Normalste der Welt wäre. »Wozu diese Nudeln fähig sind«, sagt der Mann, dessen Türe sich tagsüber nicht öffnet, »sie machen es einem nicht einfach, diese Nudeln. Nein, das tun sie nicht!« Unbeirrt von der Sprachlosigkeit des Adressaten breitet der Mann seine Arme aus und erklärt mit wohldosiertem Lächeln: »Das Haus in Wittgenstein wartet auf dich. Das Haus und alles, was dazugehört. Die Dinge kommen nicht, du musst schon hinfahren und sie dir abholen. Es ist alles da und wartet darauf, dass du kommst. Es ist vorbereitet, korrigiert, zurechtgerückt und angerichtet. Extra für dich! Nur für dich! Nenn es, wie du willst, es ist Zeit, sich zu zeigen. Mach was draus! Du hast dich lange genug versteckt. Glaube mir, ich hätte deine Großtante Emma sehr gerne kennengelernt. Es hat nicht sollen sein. Wie so vieles hat es einfach nicht sollen sein. Lass dich nicht unterkriegen! Hier eine Aspirin, damit du morgen Früh gleich die ersten Schritte in die richtige Richtung unternehmen kannst.« Wie durch Zauberei verschwindet die Nudel, und Marco H. hält plötzlich ein Glas Wasser in der einen und eine kleine Tablette in der anderen Hand. Er weiß gar nicht, wohin er zuerst schauen soll. Die beiden Besucher verabschieden sich mit einem Tippen ihrer Zeigefinger an imaginäre Kappen.
     
    +++
     
    Als Marco H. am nächsten Morgen aufwacht, steht der Entschluss trotz Kopfschmerzen fest. Er wird sich das Haus anschauen. Das kann nicht schaden, auch wenn es bedeutet, dass er seine Zelte hier in Montreal abbrechen muss. Leicht fällt ihm das nicht. Der gestrige Abend war beispielhaft. Das, was er wollte, hat er bekommen. Wenn er ein Bier bestellt hat, wurde eins auf die Theke gestellt. Wenn er jemanden durch die Luft wirbeln wollte, ist ihm einer auf den Arm gesprungen. Der Lapointe wird er noch nicht mal etwas vorschwindeln müssen. Eine Angehörige ist gestorben, und er muss wegen Erbschaftsangelegenheiten nach Deutschland. Sie wird zwei bis drei zusätzliche Monatsmieten fordern und ihn aus dem Vertrag entlassen. Das dürfte kein Problem sein. Ansonsten gibt es nicht viel, was er tun müsste. Sein Zeug zusammenraffen, aber das passt in zwei Koffer. Am Nachmittag ruft er bei Air Canada an und erkundigt sich nach dem nächstmöglichen Flug. Er bekommt einen für den übernächsten Tag.
    Unten im Flur spricht die Lapointe zuerst von Einhaltung des Vertrags und meint, sie seien hier in Kanada, und
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