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Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein
Autoren: Raouf Khanfir
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den endlosen Gängen und Schluchten ihres Reiches. Madame Lapointe bewohnt allein die gesamte untere Etage, während über ihr, auf gleicher Quadratmeterzahl, fünf Leute leben. Ein voll beladener, schmaler, langer Gang führt hinter ihrem massigen Körper in das Innere, dahin, wo er noch nie war. Sie hortet. Allein im Flur steht so viel herum, dass das komplexe Muster der alten Tapete nicht mehr zu durchschauen ist. Überall stehen oder liegen Sachen, und es ist nicht leicht zu entscheiden, ob sie stehen oder liegen. Ob sie stehen oder liegen, scheint nicht mal Madame Lapointe zu interessieren. Hat man erst einmal mit dem Horten angefangen, hört man so schnell nicht mehr auf. Niemand weiß das besser als die Lapointe. Und so steht sie in der Mitte des Flurs, umgeben von Gegenständen unterschiedlichster Art, mit Backen aufgeplustert wie ein Hamster und ihrer schweren Hornbrille im Gesicht. Sie ist sehr weitsichtig, unter ihren dicken Brillengläsern wirken ihre Augen übergroß. Sie kann sehr weit sehen. Das Äußere all der Typen, die bei ihr wohnen, beeindruckt sie kaum, darüber sieht sie mit Leichtigkeit hinweg. Sie muss ein besonderes Faible für Gottes Geschöpfe haben. In jüngeren Jahren, sie lebte damals südlich der Grenze in Detroit, hat sie ein paar wirklich üble Gestalten erlebt, so dass die Bewohner ihres Hauses ihr heute vorkommen wie ein Haufen Haustiere, die zwar ihre Gerüche verbreiten, ansonsten aber ganz unproblematisch sind. Brav, wenn mit harter Hand geführt. Weil ihre Stimme klingt wie ein einziger Vorwurf, hat Marco H. noch nie einen wirklichen Vorwurf aus ihrem Mund gehört. Als Vermieterin ist sie genau richtig. Sie macht ihr Ding und macht es gut, eine Quittung gibt's nicht. Wer braucht auch so etwas!?
    Die Lapointe ist schon dabei, ihn mit dem Handrücken hinauszuwedeln, als ihr noch etwas einfällt:
    »Ich habe Post für Sie, Monsieur H.«
    »Ah!?«
    Sie dreht sich weg und verschwindet wie ein Dachs im Dickicht ihrer Wohnutensilien. Es raschelt, hier und da fällt etwas zu Boden, ein, zwei frankokanadische Flüche - etwas Religiöses -, und schon taucht sie wieder auf, einen deutschen DIN-A5-Umschlag in der Hand. Nach wortloser Übergabe lässt sie die Tür auf ihre typische Art ins Schloss fallen.
     
    Amtsgericht Bad Berleburg, Wittgenstein
    Betreff: Nachlass der Emma Kath. D., verstorben am 19.06.2010
    Sehr geehrter Herr H.,
    Beigefügt erhalten Sie beglaubigte Kopie der letztwilligen Verfügung des Erblassers zur Kenntnisnahme. Falls zum Nachlass Grundeigentum gehört, erfolgt die Überschreibung auf die Erben des eingetragenen Eigentümers gebührenfrei, wenn der Eintragungsantrag, der beim Grundbuchamt zu stellen ist, binnen zwei Jahren seit dem Erbfall beim Grundbuchamt eingereicht wird. Mit freundlichen Grüßen Auf Anordnung: B. Schneider Justizangestellte
    Emma Kath. D.!?
     
    Zurück in der Küche, dauert es einen Moment, bis ihm einfällt, von wem die Rede ist. Die Schwester seiner Großmutter väterlicherseits, seine Großtante. Er versucht eine Zeit lang, sich ihr Gesicht in Erinnerung zu rufen, ist sich dabei aber nicht ganz sicher, ob er sie in seinem Leben überhaupt je gesehen hat. Außerdem lenkt ihn das Brummen des alten Kühlschranks allzu sehr ab. So gibt er das Erinnern fürs Erste auf, legt den Brief beiseite und macht sich etwas zu essen. In der Küche ist es immer das Gleiche: Der Kühlschrank ruft, und sein Magen antwortet. Seine Küche ist ein neun Quadratmeter großer Schlauch mit einer Breite von nur etwas mehr als zwei Metern, und viel Essbares findet sich selten darin. Er hat noch ein paar Möhren und zwei Päckchen Nudelsuppe mit Entengeschmack. Manchmal, so könnte er schwören, lacht der gigantische Gasherd von General Motors über das, was er darauf zubereitet. Zwar gelingt es Marco H. meist, die herablassende Art, mit der der Riese die Speisen in den verschwindend kleinen Töpfchen erhitzt - häufig, bis sie schließlich verkocht und ruiniert sind -, zu ignorieren, doch auch heute kann er es drehen und wenden, wie er will, aus den Nudeln und den Möhren lässt sich nicht mehr machen als Nudeln und Möhren und Entengeschmack. Trotzdem isst er anschließend mit Appetit und liest und kleckert auf den Text. Solche Suppen würden allerdings nie Flecken auf einem Testament hinterlassen, und das ist nur einer der Vorteile dieser Suppen.
    Seine Großmutter hatte eine Schwester Emma und einen Bruder, der im Krieg gefallen war. Emma ist die Jüngste. Sie
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