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Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein
Autoren: Raouf Khanfir
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so ginge das nicht. Dann findet sie, drei Monatsmieten seien das Mindeste, wobei sie sich in theatralischer Geste abwechselnd an die linke Brust und an eine der Falten zwischen Kinn und Schlüsselbein fasst. Er druckst herum, schaut sie, die nach Luft zu ringen scheint, mit seinen braunen Augen flehend an, hüpft von einem Bein auf das andere und weiß genau, dass er am längeren Hebel sitzt. Schließlich gibt sie sich mit zwei Monatsmieten zufrieden, und in Anbetracht seiner neuen Erbschaft findet er es kleinlich, sie weiter runterzuhandeln. Dass er die Scheine schon abgezählt in der Tasche hat, macht sie nur noch wütender. Sie reißt ihm das Geld aus der Hand und stopft es, ohne nachzuzählen, in ihr rotes Kleid mit den blauen Blüten. Die armen Dinger zerknittern völlig, mindestens ein Schein reißt ein. »Na dann, bonne chance«, flötet sie und wuchtet ihren Körper mit einem Ruck in dem engen Flur herum. Ein Turm aus Umzugskisten fängt bedrohlich an zu wackeln, beruhigt sich aber, nachdem sie die Tür zum Salon zugeknallt hat. Als er zurück in seine Küche kommt, findet er einen Brief, den jemand in der Zwischenzeit unter seiner Tür hindurchgeschoben haben muss. Auf dem teuer aussehenden, eierschalenfarbenen Umschlag steht kein Absender. In der rechten oberen Ecke ist als Wappen ein kleines schwarzes Fernglas eingedruckt, darunter zwei gekreuzte Lorbeerzweige. Er steckt den Brief ein und verlässt das Haus. Hätte sein Magen nicht so geknurrt, hätte er ihn sofort gelesen, aber seinem Magen gibt er immer gerne nach. In Wittgenstein dürfte die asiatische Küche unterrepräsentiert sein, also nutzt er die Gelegenheit, noch einmal eine vietnamesische Nudelsuppe zu essen. Er hat eine Schwäche für asiatische Nudelsuppen, und gerade die berühmte, viel besungene vietnamesische Pho-Suppe hat es ihm angetan. Diesbezüglich wird er sich in Wittgenstein sicher umstellen müssen. Aber darüber macht er sich auf dem Weg ins Restaurant nur wenige Gedanken. Er macht sich überhaupt wenige Gedanken. Vollkommen lautlos trifft die Gummisohle seiner Turnschuhe mit dem Ballen auf den Asphalt und rollt geschmeidig bis zur Ferse ab. Mit den Armen holt er dabei idealen Schwung und manövriert seinen Körper immer wieder haarscharf an diversen Hindernissen vorbei. Er geht mit erstaunlicher Geschwindigkeit, ohne gehetzt zu wirken. Jeder andere, der so schnell gehen würde, wäre in Eile. Er hat es nicht eilig. Er ist ruhig und er ist schnell und noch ist er ein Teil dieser ruhigen und schnellen Stadt. Die beiden Bedienungen balancieren wie immer große Schüsseln durch die zartrosa und lindgrün gehaltene Suppenküche. Dass sie sich keine Mühe geben, dabei besonders fröhlich auszusehen, macht die Farbwahl des Raumes erträglicher. Marco H. hat einen Platz am Fenster und blickt auf den leicht heruntergekommenen Teil der Rue Saint-Cathrine, einen Boulevard, der die Stadt von Westen nach Osten durchzieht und den er sich schon in den ersten Monaten seines Aufenthalts erlaufen hat.
    Ein Mann undefinierbaren Alters, aufgedunsen, mit knallrotem Kopf, in einem dazu passenden zerrissenen roten Sweatshirt, schlurft vorbei, dreht sich herum und streckt ihm die ins Violette gehende Zunge raus, stolpert, fällt hin und verschwindet aus seinem Blickfeld. Kurz darauf rappelt er sich auf und zieht fluchend weiter. Mit der rechten Wange an der Scheibe verfolgt Marco H. den wippenden roten Punkt und sieht ihn nach und nach im Gesamtbild verschwinden. Das ist Montreal, er liebt diese Stadt. Man fällt hin und steht wieder auf. Es ist ganz einfach, abzutauchen, und irgendwann kommt man wieder hoch, praktisch automatisch. Es gibt Städte, da läuft das anders. Er kennt die Kellner und Kellnerinnen aus einem Dutzend asiatischer Restaurants in Chinatown und sonst wo in der Stadt, die Gebäude und die Jahreszeiten. Er weiß, was passiert, wenn der Frühling wirklich kommt, und wie sehr man darauf warten kann. Er kennt die Leute, die ihn immer wieder an denselben Straßenecken und Metroaufgängen um Münzen bitten. Er hat immer welche in der Tasche, und meist bedanken sie sich höflich. Er hat sogar angefangen, ein paar von ihnen zu grüßen. Er will mit wenig auskommen, er ist hergekommen, um mit wenig auszukommen, zumindest hat er sich das eingeredet und hätte es auch jedem, der gefragt hätte, genau so gesagt. Nicht viel zu wollen kann sehr entspannend sein, man muss nur fest genug an die eigene Genügsamkeit glauben.
    Tee und Wasser sind
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