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Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein
Autoren: Raouf Khanfir
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des Sofas an, andere dem Rot der Wände. Marco H. schlägt wieder und wieder zu und spürt mit jedem Schlag immer weniger, dass er schlägt. Eine Zeit lang ist er ganz bei sich und seinen Bewegungen. Erst als sein Blick den ausgestreckten linken Arm des Fahrers entlanggleitet und an der schlaff über dem Teppichboden baumelnden Hand ankommt, hält etwas in ihm inne, und er hört auf.
    Die Luft brennt und schmeckt nach Blut. Er steigt von dem schlaffen Körper und setzt sich auf die Sofakante. Die beiden Punkte haben aufgehört, durch seinen Körper zu rasen, und sind wieder zwei Nadelstiche oberhalb des rechten Ohrs. Ohne zur Wand zu schauen, weiß er, woher sie kommen. Aus ihrem kleinen, weißen Gesicht, das auch nur ein Punkt innerhalb eines Punktes ist, in einer Welt aus Gras und Holz.
    Er richtet sich auf. Seine linke Hand ist noch zur Faust geballt, er will sie öffnen, aber so schnell geht das nicht.
    »Gib mir den Schlüssel!«, krächzt er. Sein Hals ist eine Wunde. Aus dem Fahrer kommen ein Stöhnen, ein paar erstickte Töne, ein Gurgeln. Nichts, was Marco H. verstehen könnte. Also bedient er sich selbst und fingert den Schlüsselbund aus der Jackentasche. Er hat keine Zeit zu verlieren und stürzt aus dem Haus, ohne sich umzudrehen. Der Fahrer gibt einen lang gezogenen, gutturalen Laut von sich und dann lange Zeit nichts mehr.
     
    +++
     
    Er öffnet die Autotür und setzt sich hinters Steuer. Der Wagen springt sofort an. Er kuppelt und gibt Gas. Seine Scheinwerfer tauchen die Hole in ein gespenstisches Licht, in dem immer nur ein paar wenige Meter des kurvigen Weges zu sehen sind. Das Geröll und die Steine und der Schneematsch, ein paar Sträucher, sonst nichts. Es ist nur ein kurzer Weg, aber er fährt langsam und mit nahezu vollkommener Aufmerksamkeit. Er blickt gerade nach vorn in den Lichtkegel und ist sich der Dunkelheit um ihn herum auf eine ihm bisher unbekannte Weise bewusst. Die Dunkelheit ist ein Panzer, ein riesiger Schild, der sich über ihn und das Auto, die Hole und die ganze Welt gelegt hat. Das Geräusch des Motors draußen unter der Haube vermischt sich mit dem Geräusch seines Atems. Marco H. lässt sich von den Steinen und Sträuchern leiten. Die Hole verlangt eine Geschwindigkeit und verbietet eine andere. Der Schweißgeruch des Fahrers im Wageninneren macht ihm nichts aus. Es gibt Leute, die irgendwann ihre Angst überwinden, alles hinter sich lassen und einen wie den Fahrer windelweich schlagen. Nicht nur, weil er der Bösewicht ist und die Situation es verlangt, sondern weil es Momente gibt, in denen sich die Angst, der Tennisball im Hals, runterschlucken lässt und der Blick frei wird, auf ein anderes Leben. Das Schlucken bereitet ihm noch Schwierigkeiten und zeichnet ein verbissenes Grinsen auf sein Gesicht. Nur das Brennen hindert ihn daran, laut loszulachen.
    Der Wagen taucht zwischen der »Hole 1« und der »Hole 2« auf, biegt nach links und bei der nächsten Gelegenheit nach rechts. Er denkt an Anne und fragt sich zum tausendsten Mal in den letzten Tagen, ob sie noch da sein wird, wenn er bei ihr anruft.
     
    +++
     
    Auf dem leeren Platz »An der Teppichstange« bringt er den Wagen zum Stehen und blickt sich um. Sein Atem schmeckt nach Blut. Die Fenster der Häuser sind so dunkel wie immer um diese Zeit. Im Lichtkegel einer der Straßenlaternen entdeckt er einen braun-weißen Winkel zwischen dem schwarzweißen Fachwerk. Er steigt aus, taumelt zu dem Haus und klingelt an der grünen Holztür.
    Kurze Zeit später erscheint Anton M. gemeinsam mit seinem treuen Hamsterhund im Türrahmen. Wenn er ein Kinn besäße, hätte der Anblick von Marco H. und dessen Zustand es hinunterklappen lassen. So fällt lediglich seine Unterlippe, nicht besonders tief. Anton trägt ein weißes Unterhemd und braune Hosen, die von Hosenträgern gehalten werden, die restlichen Haare liegen glatt und links gescheitelt am Kopf, wo sie darauf warten, grau zu werden. Hinter ihm liegt ein Flur, der von einer warmen, grünen Deckenlampe beleuchtet wird und in dem das erschrockene Gesicht einer Frau mittleren Alters auftaucht. Marco H. macht einen Schritt auf ihn zu. Anton M. tritt zur Seite. Im Kopf des jungen Mannes wird in diesem Moment etwas herumgedreht, und für den Bruchteil einer Sekunde sieht er sich auf dem schwarz-weißen Kachelboden liegen, den Hamsterhund hilflos jaulend und mit gebrochenen Knochen unter seinem Gewicht begraben, das besorgte Gesicht Antons und das ihm bisher unbekannte und
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