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Unscheinbar

Unscheinbar

Titel: Unscheinbar
Autoren: Anja Berger
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Prolog
    Als hätte man die Schleusen eines Dammes geöffnet, rauschte der Regen unaufhörlich nieder. Die Pflanzen hatten längst genug Wasser, die Erde vermochte die Menge kaum mehr in sich aufzunehmen. An manchen Stellen bildeten sich bereits Rinnsale, die angesichts der Fluten, die vom Himmel fielen, schnell anschwellen würden. Grelle Blitze durchschnitten in rascher Regelmässigkeit die schwarze Nacht und tauchten die Bergwipfel für den Bruchteil einer Sekunde in ein groteskes Licht. 
    Ohne den Blick vom Fenster abzuwenden, lauschte Alice in die Nacht hinein. 
    …drei, vier, fünf… 
    Weiter konnte sie nicht zählen, da krachte es auch schon wieder markerschütternd. So nahe, wie Blitz und Donner aufeinander folgten, konnte das Gewitter nur noch wenige Atemzüge weg sein, bevor sich die ganze elementare Kraft direkt über ihrem Haus entladen würde. 
    Doch offenbar konnte das kleine Wesen, das sie unter dem Herzen trug, nicht gleichviel Faszination für das tobende Unwetter aufbringen wie sie selbst, wie Alice feststellte. Die grosse Wölbung unter ihrem Nachthemd bekam beim Klang des Donners eine unheimliche Delle, so heftig trat das Baby gegen den Bauch. Scharf sog Alice den Atem ein. 
    „Hör auf damit, du kleines Monster, das tut weh!“ Aber das zärtliche Lächeln auf ihren Lippen nahm ihren Worten jegliche Schärfe. Ganz eingenommen von den verschiedenen Arten, in denen sich die Natur in ihrer ganzen Kraft darbot, hätte sie beinahe ein leises Klopfen überhört. Die Stirn in Falten gelegt, den Blick auf ihren Bauch gerichtet, verharrte sie einen Moment. War da wirklich etwas? 
    Als Antwort klopfte es erneut, diesmal etwas lauter. Schwerfällig raffte sich Alice von ihrer Ofenbank auf und schlurfte zur Tür. Sie öffnete nicht sofort. Die Hand bereits an der Türfalle, zögerte sie. Wer sollte sie bei diesem Wetter und um diese Zeit aufsuchen? Das wäre doch vollkommen verrückt. Verrückt? Ein gutes Stichwort. Was, wenn es ein Irrer war? 
    Da drang ein leises Wimmern an ihr Ohr. Was zum Teufel…? Ohne noch weiter darüber nachzudenken öffnete sie in einer einzigen fliessenden Bewegung die Tür. Der Geruch nach nasser Erde schlug ihr ins Gesicht. Ein Geruch, den sie eigentlich sehr mochte, doch sie nahm ihn nicht wahr. Etwas ganz Anderes forderte ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Beim Anblick, der sich ihr bot, blieb ihr beinahe das Herz stehen. Erneut zuckte ein Blitz über den Himmel und liess in dem strömenden Regen nur schwarze Umrisse erkennen, die direkt auf sie zukamen. Erschrocken wich Alice einen Schritt zurück. Der Besucher trat seinerseits näher. Doch noch bevor Alice abwehrend reagieren konnte, war der unwillkommene Gast bereits bei ihr und legte ihr in einer schnellen Bewegung die Hand über den Mund, wobei sein seltsam geformter Unterleib den ihren streifte. Sofort schob Alice ihre Arme dazwischen und legte sie schützend über ihren Bauch. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie den Eindringling an. Triefnasse, hellbraune Haarsträhnen lugten unter der Kapuze hervor, der Blick aus den rauchgrauen Augen war flehend und eindringlich. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff. Als der Mann in dem schwarzen Umhang die Veränderung in Alice Augen erkannte, hob er vorsichtig seine Hand von ihrem Mund. 
    „Martin! Du hättest mich beinahe zu Tode erschreckt! Was willst du hier?“ 
    „Bitte entschuldige, aber es ging nicht anders.“ Als Alice den gehetzten Ausdruck und die fahrigen Bewegungen des sonst so ruhigen und besonnenen Mannes beobachtete, kroch eine entsetzliche Ahnung in ihr hoch. 
    „Ich habe keine Zeit für lange Erklärungen.“ Ohne ein weiteres Wort hob er den Mantel und gab den Blick auf den Grund für die Unförmigkeit frei. 
    „Heilige Mutter Gottes!“ Ungläubig schlug sie die Hände vor ihrem Gesicht zusammen. „Martin, bitte, wir finden eine Lösung!“ 
    „Nein. Es gibt keine und das weisst du. Es ist der einzige Weg.“ Die Last seiner Aufgabe schien ihn zu erdrücken. Alice hätte sie ihm so gerne abgenommen, aber das war unmöglich. 
    „Du weisst, was zu tun ist. Sie sind alle dem Tod geweiht. Es gibt nur noch uns beide. Und wenn der Morgen graut, gibt es nur noch sie.“ 
      
    Reingewaschen und frisch erstrahlte die Natur nach dem nächtlichen Unwetter. Glitzernd reflektierten die Regentropfen das Licht des neuen Tages, nachdem der Schein der zuvor noch tanzenden Flammen erloschen war. Das Auto lag auf dem Dach. Es war vollständig
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