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Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein
Autoren: Raouf Khanfir
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Marco H. blickt wieder hinüber zu Emma und dann auf seine durchweichten Leinenturnschuhe und die kleine Lache, die sie auf dem Boden hinterlassen haben. Dann schreit er los. Ein Zweisekunden-Schrei, kein Wort, ein Schrei. Ein riesiges Aaaaaaaaaaaaaaaahhhhhhhhhhü! Joachim fährt zusammen und steht mit einem Satz auf, dabei stößt er den Tisch schließlich doch noch um. In einem kleinen Raum mit jemandem zu sein, der unerwartet aus Leibeskräften zu schreien anfängt, passiert ihm nicht jeden Tag. Heute ist nicht jeder Tag. Heute ist heute. »Bist du bescheuert?«, fragt Joachim. »Nein, bist du bescheuert?«, fragt Marco H.
    Sie stehen sich gegenüber. Joachim hat die Statur einer Glühbirne mit dürren Beinen, sein Kopf ist eher klein und schmal. Als Frisur sind ihm ein paar helle Haare geblieben, die irgendwie vom Kopf abstehen. Flusen, an denen man sich eventuell festhalten kann. Marco H. muss fehlende Körpermasse und geringere Stärke irgendwie ausgleichen. Er springt an ihm hoch und krallt sich fest. Keiner der beiden hat jemals einen anderen mit bloßen Händen umgebracht. Beide haben sich in ihrem Leben nur sehr selten geprügelt. Sie sind es nicht gewohnt, dass ihnen jemand zu nahe kommt. Joachim noch weniger als Marco H. Dadurch und wegen des Überraschungsmoments wird das ungleiche Kräfteverhältnis zunächst ausgeglichen. Joachim fuchtelt mit den Armen, und sein weit offener Blick ist, wie im Gebet, starr zur Decke gerichtet, während Marco H. sich fledermausgleich an seinem Hals hocharbeitet, als wolle er den Gipfel erklimmen und sich auf Joachims Kopf hocken. Sie tatschen sich gegenseitig im Gesicht herum und suchen Stellen, die weicher und verletzlicher sind als Knochen und Haut. Joachim stolpert zwei Schritte nach hinten und fällt gemeinsam mit seiner Last auf das blaue Sofa. Liegend gelingt es ihm, der Telefonhilfskraft mit dem Handballen den Kopf mit aller Kraft in den Nacken zu drücken. Der Effekt stellt sich sofort ein. Marco H. wird schwarz vor Augen. Sein Blut verliert an Geschwindigkeit, die Körpertemperatur fällt. Auf dem Sofa bekommt er Joachim nicht mehr richtig zu fassen, doch wenn er die nächsten Minuten erleben will, muss er ihn zu fassen bekommen. Der Druck wird stärker. Das Keuchen des Fahrers dröhnt in seinen Ohren, und er kann fast nichts mehr sehen. Joachim hat ihn von unten am Hals gepackt und drückt zu. Geschickt ist er nicht, aber wenn er etwas gepackt hat, lässt er es so schnell nicht wieder los. Jede Zelle in Marcos Körper ringt nach Sauerstoff, und eine nach der anderen gibt es auf. Für einen Augenblick liegt er nur noch auf dem Fahrer und lässt sich würgen. Bis auf den brennenden Schmerz, über den er mit seinem ungleich vitaleren Widersacher verbunden ist, fühlt er nichts. Er taucht ein in etwas, das er noch nicht kennt. Aufgeben ist das Nächstliegende. Man muss nicht einmal einen Schritt machen. Man kann einfach liegen bleiben, wie man gerade liegt. Plötzlich bohren sich zwei kleine Punkte oberhalb seines rechten Ohrs in seinen Kopf und verströmen von dort aus Hitze. Die Punkte liegen nah beieinander. Auch wenn er zu sonst nichts mehr in der Lage ist, kann er sie sehr genau unterscheiden. Die Punkte kriechen unter seine Haut und wärmen ihn von innen. Die Wärme läuft ihm den Rachen hinunter, biegt ab, unterhalb des linken Schulterblatts entlang, in seinen Oberarm, in den Unterarm bis in seine linke Hand, die sich unter der Wärme zu einer idealen Faust ballt. Alle Muskeln seines Oberkörpers spannen sich. Aus seinem Mund kommt ein Krächzen, bevor er zuschlägt. Ein perfekter Schlag. Nicht frontal, sondern seitlich angesetzt. Das Nasenbein bricht sofort, und der Griff um seinen Hals wird gelockert. Ein bisschen Blut spritzt heraus. Wo das Blut herkommt, ist noch mehr. Er schlägt erneut und mit noch größerer Wucht zu. Die Punkte bewegen sich jetzt mit unglaublicher Geschwindigkeit und verteilen die Wärme in seinem gesamten Körper. Immer wieder trifft er den Fahrer auf Hals, Augen, Nase und Mund. Zwei seiner Finger könnten gebrochen sein, aber ebenso der Kiefer des Fahrers. Kein schlechter Tausch, Fingerknochen gegen Kieferknochen.
    Joachim, der mit dem ersten Schlag den passiven Part übernommen hat, schnappt schwächlich nach Luft und stößt seltsam pfeifende Laute aus. Er hat die dünne Kehle längst losgelassen und versucht nicht mal mehr, sich vor den auf ihn niederprasselnden Schlägen zu schützen. Teile seines Gesichts passen sich dem Blau
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