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Ich habe einen Namen: Roman

Ich habe einen Namen: Roman

Titel: Ich habe einen Namen: Roman
Autoren: Lawrence Hill
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Und jetzt bin ich alt
    {London, 1802}
    Ich scheine
Schwierigkeiten mit dem Sterben zu haben. Eigentlich sollte ich gar nicht so
lange leben. Aber ich kann immer noch riechen, wenn mit dem Wind Ärger
heranweht, genauso wie ich euch sagen kann, ob es Hähnchenhälse oder
Schweinefüße sind, die da im Eisentopf über dem Feuer in ihrem Saft blubbern.
Und meine Ohren sind auch immer noch so gut wie die eines Jagdhundes. Die Leute
denken, wenn man nicht mehr aufrecht wie ein Grünschnabel dasteht, ist man
taub. Oder dass man nur noch Kürbispampe im Kopf hat. Als ich neulich an einem
Treffen mit einem Bischof teilnahm, sagte eine der Gesellschaftsdamen zu einer
anderen: »Wir müssen diese Frau möglichst bald ins Parlament bringen. Wer weiß,
wie lange sie noch unter uns ist?« So krumm mein Rücken auch sein mochte, stieß
ich ihr doch einen Finger zwischen die Rippen. Sie ließ ein Quieken hören und
fuhr zu mir herum. »Vorsicht«, sagte ich zu ihr, »vielleicht überlebe ich Sie
noch!«
    Es muss einen Grund
geben, warum ich in all diesen Ländern gelebt und all diese Überquerungen des
Ozeans überlebt habe, während so viele andere Kugeln zum Opfer gefallen sind
oder ganz einfach die Augen geschlossen haben und nicht weiterleben wollten. In
jenen frühen Tagen, als ich frei war und nichts anderes kannte, habe ich mich
oft von unserem Grundstück geschlichen und bin in die große Akazie geklettert,
Vaters Koran auf dem Kopf balancierend. Auf einen Ast habe ich mich gesetzt und
mich gefragt, ob ich wohl jemals all die Geheimnisse dieses Buches
entschlüsseln würde. Ich ließ die Beine baumeln, legte das Buch zur Seite, das
einzige übrigens, das ich in Bayo je zu Gesicht bekommen hatte, und sah hinaus
auf das Flickmuster aus Lehmwänden und Strohdächern. Die Leute waren ständig in
Bewegung. Frauen trugen Wasser vom Fluss herauf, Männer schmiedeten Eisen im
Feuer, und junge Burschen kamen triumphierend aus dem Wald zurück, wo sie
Stachelschweine gefangen hatten. Es ist schrecklich viel Arbeit, an das Fleisch
eines Stachelschweins heranzukommen, aber wenn die Jungs sonst nichts Wichtiges
zu tun hatten, störte sie das nicht. Sie kappten die Stacheln, zogen den Tieren
die Haut ab, schnitten die Innereien heraus und übten an den lächerlich kleinen
Körpern den Umgang mit ihren scharfen Messern. Ich war damals glücklich und
fühlte mich frei, ohne dass es mir in den Sinn gekommen wäre, über meine
Sicherheit nachzudenken.
    Ich bin dem gewaltsamen
Tod immer entronnen, so nahe er mir gekommen ist, habe aber meine Kinder
verloren und nicht mit ihnen leben und sie großziehen dürfen, so wie meine
Eltern mich zehn, elf Jahre großgezogen haben, bis unser gemeinsames Leben
zerstört wurde. Ich hatte meine Kinder nur kurz für mich, weswegen sie heute
nicht hier bei mir sind, mir mein Essen kochen und frisches Stroh in meine
Matratze füllen, mir einen Umhang gegen die Kälte bringen und in dem Wissen mit
mir am Feuer sitzen, dass sie aus meinen Lenden hervorgegangen sind und unsere
gemeinsamen Momente die erfüllendsten meines ganzen Lebens waren. Wir haben
keine gemeinsame Geschichte, und heute kümmern sich andere um mich, aber das
ist in Ordnung. Dennoch ist es nicht das Gleiche, als wenn einen sein eigen
Fleisch und Blut bis zum Grab umsorgt. Ich sehne mich danach, meine Kinder in
die Arme zu schließen, und auch Enkel, wenn es die denn gibt. Ich vermisse sie
wie Glieder, die man mir vom Körper abgetrennt hat.
    Ich habe hier in London
ungeheuer viel zu tun. Es heißt, ich soll König George treffen. Um mich herum
ist ein ganzer Trupp Abolitionisten, vollbärtiger, dickbäuchiger, kahlköpfiger
Gegner der Sklaverei, die den Zucker boykottieren, aber nach Tabak stinken und
bis spät in die Nacht Kerze um Kerze entzünden, während sie an ihren Strategien
feilen. Die Abolitionisten sagen, sie haben mich nach England geholt, damit ich
ihnen helfe, den Lauf der Geschichte zu ändern. Nun, wir werden sehen. Aber
wenn ich so alt geworden bin, muss es schließlich einen Grund dafür geben.
    Fa heißt in meiner Sprache »Vater«. Ba heißt »Fluss«, und auch »Mutter«. In
meiner frühen Kindheit war meine Ba wie ein Fluss, der mich durch die Tage
trug und nachts mit Sicherheit umgab. Der Großteil meines Lebens ist vorbei,
aber auch heute noch sind Fa und Ba meine Eltern, sind älter und klüger als
ich, und ich höre ihre Stimmen, manchmal tief und bedächtig, dann wieder leicht
wie eine hübsche Melodie. Ich erinnere
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