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Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein
Autoren: Raouf Khanfir
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war die Jüngste. Mit Erbschaften kennt er sich aus. Das Testament ist eine Kopie auf günstigem Kopierpapier und ähnelt in seiner zart graugelben Farbe der leicht vergilbten Tapete in der Küche. In dem Testament ist er als Alleinerbe eingesetzt. Der beauftragte Notar hat nach einer Unterredung mit Emma D. den Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte attestieren können. Er bekommt den gesamten Nachlass, der ihm zur völlig freien Verfügung zufällt. Mangels Alternativen steht nur sein Name in dem Dokument. Auf einer kurzen Liste werden ein paar womöglich wertvollere Möbel und Schmuckstücke aufgeführt, ansonsten ist die Erbmasse ziemlich klar strukturiert: Grundstück und Haus (In der Hole 3 in Schüllar bei Bad Berleburg), mit allem, was dazugehört. Der Notar hat ihr das Dokument vorgelesen, sie hat es genehmigt, und zusammen haben sie es an einem schönen Frühlingsmorgen vor drei Jahren unterschrieben. Mit ihrer elegant geschwungenen Unterschrift hat Emma D. Marco H. ein kleines Bauernhaus aus dem 19. Jahrhundert in Wittgenstein geschenkt. Wittgenstein ist Teil des Rothaargebirges, einer noch stark bewaldeten und mehr oder weniger sanft hügligen Landschaft, in die sich drei kleine Städtchen mit dazugehörigen Dörfern schmiegen. Als kleiner Junge war er das eine oder andere Mal in der Gegend, danach nicht mehr. Er fängt an zu lachen, und für ein paar Sekunden kann er nicht aufhören. Etwas Suppe schießt ihm in die Nase, und aus dem Lachen wird ein Husten und wieder ein (leiseres) Lachen. Im Kühlschrankriesen stehen noch ein paar einsame Dosen Molson Ex. Die erste öffnet sich mit einem Zischen.
    »Auf dich, liebe Großtante Emma, und wieder auf dich. Und noch mal auf dich, darauf, dass du nicht geheiratet hast, und auch darauf, dass du keine Kinder gekriegt hast.«
    Das Bier fließt mit genau der richtigen Geschwindigkeit seine Kehle runter. So sollte es sein. Die Mischung aus Nudeln und Bier in seinem Magen fühlt sich gut an. Sie schwappt angenehm hin und her, wenn er sich ruckartig bewegt.
    »... wenn es da Wolken gibt, und Bäume und viel Wasser, dann denk dran, es gehört mir, es gehört mir, es gehört mir«, schreit einer aus dem kleinen gelben Kassettenrecorder, und Marco H. lässt die Flüssigkeiten im Takt schwappen. Zwei Stunden später verlässt er als frischgebackener Hausbesitzer leicht taumelnd das Stockwerk durch das Loch in der Ecke des Flurs. Die Treppe stöhnt, und zumindest der Mann, dessen Türe sich niemals öffnet, hört zu.
     
    Es dauert nur ein paar Sekunden, und die grinsenden Gesichter überall im Halbdunkel sagen ihm, dass das bereits angefangene Konzert zu denen gehört, die im Hier und Jetzt stattfinden. Im vergangenen Jahr hat er sehr viele Konzerte besucht. Darunter waren auch eine Handvoll großartige, weil es der jeweiligen Band gelang, den Fokus so sehr auf den Moment zu legen, dass tatsächlich nichts anderes mehr eine Rolle spielte als genau das, was passierte, in dem Raum und in der Zeit. Ein gelungenes Konzert ist, einmal vorbei, genauso tot wie Großtante Emma.
    Der Raum im Untergeschoss eines runtergekommenen Lagergebäudes im Mile End ist etwa 90 Quadratmeter klein und zur Hälfte gefüllt. Er geht nach vorn in die zweite, dritte Reihe. Die Band spielt »Killer O'Hann«. Der Bassist fixiert einen Punkt über den Köpfen der Zuschauer. Es sieht aus, als könne niemand, der nicht ebenso stark schielt, je einen Punkt irgendwo mit der gleichen Intensität fixieren, den einen Punkt, von dem niemand weiß, wo genau er sich befindet. Man möchte sehen, was er sieht. Marco H. blickt nach oben, während ein paar Leute vor ihm zur Seite gehen und eine Schneise bis zur Bühne hin bilden. Als er wieder nach vorn schaut, steht der Sänger da und - wie man ihn kennt und schätzt - fackelt nicht lange. Er springt an Marco H. hoch und klammert sich an dessen Körper fest. Der Sänger ist leicht, riecht nach Seife und ein wenig nach Schweiß. Den Arm um Marcos Hals geschlungen, die Beine um seine Taille, singt er das Lied einfach weiter. Marco H. ist ein hagerer Typ, aber nicht unsportlich und fast einen Kopf größer als der Sänger, der ziemlich klein ist. Um die beiden bildet sich ein Kreis. Er schafft es, den Sänger etwas anzuheben, indem er ihm unter die Achseln greift, hält ihn fest und wirbelt herum, und der Sänger lässt sich festhalten und singt und schreit und gibt die für ihn typischen Geräusche von sich. »Scared of that man/Scared of that man/Scared of that
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