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Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein
Autoren: Raouf Khanfir
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ihm die Anwesenheit des Kühlschranks und des Elektroherds schon fast zu viel waren. Was heißt schon »verstehen«? Er liest den Brief ein weiteres Mal. Die einfachen Stühle in der Suppenküche sind nicht besonders bequem. Mit einem kräftigen Ruck seiner Rücken- und Armmuskulatur könnte er die Lehne des Stuhls nach hinten wegschlagen. Er rutscht hin und her und presst schließlich den Rücken mit aller Kraft gegen die gebogene Lehne. Als die Lehne langsam nachzugeben scheint, lässt er mit dem Druck gerade noch rechtzeitig nach. Es ist nicht der Moment, Aufsehen zu erregen. Wann überhaupt ist der Moment, Aufsehen zu erregen? Aus der Musikanlage kommt eine asiatische Klassik-Pop-Interpretation eines Beatles-Songs, dessen Name ihm nicht einfällt. Eines dieser Lieder, die jeder kennt und mitsummen kann, und es würde ihm auch keine einzige Person einfallen, die ihm nicht sofort den Titel des Liedes sagen könnte. Vielleicht seine Großtante Emma, aber die ist tot. Ärgerlich, wenn einen das Gedächtnis schon in relativ jungen Jahren immer wieder in den ungünstigsten Momenten verlässt.
    Zum Glück wartet in solchen Suppenküchen niemand lange auf sein Essen. Einer der beiden Kellner stellt eine dampfende Suppenschüssel und einen kleinen Teller mit Sojasprossen, frischem Koriander, asiatischem Basilikum und einer halben Limette vor ihn hin. Marco H. bedankt sich und nimmt eine Handvoll Sojasprossen, bricht einige in der Mitte durch, andere wirft er ganz in die Suppe. Er fängt an, die Koriander- und Basilikumblätter abzuzupfen, wobei er beim Koriander weniger sorgfältig vorgeht. Auf dem Tisch steht eine kleine Dose Paprikapaste, mit der er sehr vorsichtig umgehen muss. Ein kleines bisschen zu viel davon, und die Suppe ist hin. Eine leichte Schärfe hingegen wertet sie deutlich auf. Jetzt noch ein paar Tropfen Limettensaft, und er kann den Keramiklöffel und die Stäbchen nehmen, um die zusätzlichen Zutaten behutsam unterzurühren. Mit einem leisen Schlürfen kostet er den Sud. Perfekt! Die kräftige Rindfleischbrühe harmoniert ausgezeichnet mit den frischen Kräutern, der leichten Anis-Ingwer-Note der Gewürze, den Reisnudeln und den Sojasprossen. Als besonders raffiniert erscheint ihm die Verbindung von hauchdünn geschnittenem Suppenfleisch und Filet, das man, ebenfalls hauchdünn geschnitten, roh in die sehr heiße Suppe gibt. Jetzt muss er nur darauf achten, nicht zu schnell zu essen, aber das gelingt ihm nie.
     
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    Etwa drei Monate bevor Marco H. in dringenden Erbschaftsangelegenheiten ein Flugzeug besteigt, spaziert ein rüstiger Rentner abends entlang der Hauptstraße, die an Schüllar vorbei Richtung Bad Berleburg (Wittgenstein) führt. Von der B525 geht eine Abzweigung direkt zum Haus seines älteren Bruders am Ortsrand von Wemlighausen. Ein leichter Nieselregen fällt, und Theodor S. drückt seinen Hut tiefer ins Gesicht.
    Seinen älteren Bruder hat er immer gemocht, und soweit er sich erinnern kann, hatte es in all den Jahren nie einen ernsthaften Streit zwischen ihnen gegeben. Umso seltsamer kommt es ihm vor, dass sie sich in den letzten Jahren so selten gesehen haben, und das, obwohl sie keine drei Kilometer Luftlinie von Haustür zu Haustür entfernt wohnen. An diesem Abend will er ihm einen Überraschungsbesuch abstatten und freut sich auf die warme Stube, die Erinnerungen, die sie austauschen werden, die zwei, drei Wacholderschnäpse und auf das alte Gesicht seines Bruders, in dem er immer noch fast alle Lebensphasen des vier Jahre vor ihm Geborenen erkennen kann. Das Gesicht des Neunjährigen zum Beispiel, in das er dankbar blickte, als dieser ihn, den Fünfjährigen, in letzter Sekunde aus dem Feuerwehrteich gefischt hatte, in dem er zu ertrinken drohte.
    Der Regen wird stärker, und am Straßenrand, einem schmalen, erdigen Streifen zwischen Straße und Leitplanke, bilden sich Pfützen, denen er ausweicht, indem er auf der Fahrbahn läuft. Der schmale Streifen neben der Fahrbahn ist für ihn in trockenem Zustand als Fußweg schon beschwerlich genug. Nass und entsprechend rutschig kann er ihm wirklich gefährlich werden. Vor drei Jahren hat ihm ein vergleichsweise leichter Sturz das linke Bein gebrochen und ihn für einen Monat ins Krankenhaus befördert. Seitdem hinkt er leicht und hat angefangen, sich wirklich alt zu fühlen. Seiner Frau hat er erst gar nichts davon erzählt, zu Fuß über die Hauptstraße ins Nachbardorf spazieren zu wollen. Sie hätte die Nachbarn gefragt oder
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