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Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit

Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit

Titel: Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit
Autoren: Tanja Langer
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Mal Halt. Es waren achtzehn Meilen, von der Mitte der Stadt bis zu ihrem Ziel.
     
    Der See, sagte Heinrich plötzlich, aus seinen Gedanken auftauchend. Gleich wirst du ihn sehen.
    Der Wannsee lag in der herbstlichen Mittagssonne an ihrer rechten Seite, er öffnete sich weit, es war ein riesiger See, und Henriette verstand, weshalb er auch von vielen als
eine See
, als ein Meer bezeichnet wurde,
die
Wannsee,
sie
war viel größer als Henriette es in Erinnerung hatte. Und schöner. Das Wasser glitzerte silbriggrau mit einigen hellen Lichtreflexen, ein riesiger Spiegel des Himmels.
    Der Weg führte ein Stück an der östlichen Seite des Wassers entlang, dann nahm die Kutsche eine Kurve und sie fuhren auf eine einfache Brücke zu, die sie überquerten. Von der Brücke aus konnte man nach beiden Seitenauf das Wasser sehen, und Henriette hätte gern
halt!
gerufen, doch Heinrich sagte: Wir sind gleich da, du wirst dir alles in Ruhe ansehen können.
     
    Hier sind sie vorbeigekommen,
    ich laufe neben der Kutsche her. Ich zähle die Schritte von meinem Haus zu dem Gasthof, auf den heute nicht einmal mehr eine Tafel hinweist. Es sind eintausendzweihundertzwanzig. Sie führen mich an der Bushaltestelle gegenüber dem Bahnhof vorbei, einem Backsteingebäude aus den Zwanzigerjahren, wo neben den Bewohnern von Wannsee-Dorf jeden Tag viele Touristen warten, um zur Pfaueninsel zu fahren, oder zum Liebermann-Haus oder dem Haus der Wannseekonferenz, vorbei an den Treppen, die zu den Anlegestellen hinunterführen, von denen die Ausflugsdampfer nach Potsdam und Kladow, zum Griebnitzsee und zur Moorlake ablegen, im Winter nur bis sechzehn Uhr, oder gar nicht, wenn der See ausnahmsweise zugefroren ist und sich eine dicke Eisschicht über der Fahrrinne geschlossen hat. An der Ampel an der Ecke, an der auf der Straßenseite gegenüber der große Biergarten »Loretta« liegt, mit dem freien Blick über den See, mache ich halt, nach links führt der Weg zu ihrem Grab, ich aber biege jetzt erst einmal nach rechts ab, nach rechts, Richtung Potsdam, Richtung Gasthof. In lateinamerikanischen Romanen sitzen die Toten mit auf dem Sofa oder gehen mit übers Feld oder auf der Straße spazieren, warum nicht hier, auf dem Boden des alten Preußens?
    Für Heinrich, glaube ich, war es anders: wenn ein Freund nicht in seiner Nähe war, war er für ihn wie tot.Tragödien der Abwesenheiten wuchsen daraus. Nur im Schreiben der Briefe, wenn er den Freund zu einer Figur machte, die er ansprach wie einen Teil seiner selbst, konnte er ihn »lebend« machen, im Schreiben zumindest konnte er den Faden halten. Allerdings nicht immer, nicht in den letzten Wochen seines Lebens.
     
    Nähern wir uns langsam, die Ewigkeit ist kein Pappenstiel, und zweihundert Jahre sind es auch nicht:
    Ich kehre um und gehe zurück und laufe wieder los und zähle noch einmal die Schritte von meinem Haus zu ihrem Grab, dieser
letzten Stelle
, heute verschattet unter hohen Kiefern, eingezwängt zwischen zwei alten Villen, Rudervereinen, und struppigen Büschen am Ufer: wieder sind es eintausenddreihundertzwölf. »Nun o Unsterblichkeit bist du ganz mein« ist in den Stein geritzt, in Anspielung auf den »Prinz von Homburg«, in dem es auch diese Zeile gibt: »Seit ich mein Grab sah, will ich nichts, als leben.« Oft liegen Blumen hier, im Herbst sogar Kürbisse. Unten im Wasser steht ein blaues Schild, das man nur vom Boot aus lesen kann, mit dem Hinweis darauf, was hier geschah.
    Die Unsterblichkeit –
    Heinrich und Henriette also, die sich ausgerechnet am Ufer des Kleinen Wannsees das Leben nahmen, während hundert Jahre später ein anderer Dichter am Großen Wannsee um das seine kämpfte: Georg Heym. Beim Schlittschuhlaufen. Im Winter des Jahres 1912, fünfundzwanzig Jahre alt war er da. Sein Freund, der mit ihm Schlittschuh lief, war in das Eis eingebrochen. Heym hatte verzweifelt versucht, ihn herauszuziehen, ein schrecklicherKampf, und war dabei selbst in das eisige Wasser gestürzt. Die beiden jungen Männer hatten um Hilfe geschrien, doch die Hilfe kam zu spät. Heym hatte schwere Verletzungen an den Händen, er hatte versucht, sich hochzuziehen, er wollte leben, unbedingt, doch vergebens, der See hat ihn gefressen, ein Monster.
     
    Henriette begutachtete ihr Zimmer. Sie stand, in ihrem leuchtend blauen Mantel, den Korb noch über den linken Arm gehängt, in der Rechten die kleine Tasche, einige Schritte von der Tür entfernt im Raum. Ihr war etwas feierlich zumute, und so
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