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Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit

Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit

Titel: Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit
Autoren: Tanja Langer
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Henriette, eine Welle von Glück und Zärtlichkeit durchströmt ihn, Stille – bewegt sie sich? Was tut sie? Er will nicht klopfen, er will nicht sprechen, er will sie nur ahnen, durch das Holz hindurch, und plötzlich nimmt er das Gerenne wieder auf, hopst sogar, freut sich, dass sie mit ihm sterben wird, dass sie sich ihm anvertraut hat, dass sie mit ihm dorthin geht, wohin ihm bisher keiner folgen wollte. Henriette, denkt er, sich aufrichtend, tief in den Brustkorb atmend –
     
    Das Zimmer. Das einfache Bett, der Stuhl aus Weichholz, der kleine Tisch unter dem Fenster. Die Kutsche zum See, mit der Heinrich Henriette abgeholt hat, an der Ecke der Markgrafenstraße, heimlich, damit niemand sie in letzter Sekunde sieht und von ihrem Vorhaben abbringen kann. Henriette hat ihre Tochter Pauline bei einer Freundin untergebracht, wie schon zuvor ihrem Mann Louis hat sie gesagt, sie müsse zu einer Tante, die krank sei, kurzfristig, in Potsdam, und sie hat ihr Kind zum Abschied geküsst, so wie sie es immer tat. Von der Mauerstraße aus, in der Heinrich wohnt, ist er zu Fuß gekommen, es sind nur wenige Schritte, um sie vor ihrem Haus in der Markgrafenstraße abzuholen, wo auch die Kutsche wartete, die er bestellt hat. Sie waren aufgeregt und entschlossen zugleich, Heinrich und Henriette. Der Zweispänner passierte den Gendarmenmarkt mit dem Schauspielhaus, fuhr Unter den Linden weiter, über das Quarrée hinweg, mit der Sieburgschen Baumwollmanufaktur zur Linken, auf das Brandenburger Tor zu, durch das Napoleon eingeritten war und dessen Quadriga er hatte abbauen und nach Paris bringen lassen.
     
    Zuerst hatte Henriette nicht aus dem Fenster sehen wollen, doch da Heinrich still und in sich gekehrt neben ihr saß, schob sie die Gardine beiseite und nahm Abschied von ihrer Stadt. Hier war sie spazieren gegangen. Hier hatte ihr Mann zum ersten Mal ihren Arm genommen. Hier war sie zum Spielen mit Pauline gewesen. Hier hatte sie den Viehmarkt besucht und hier hatte sie erlebt, wie der gesamte Platz von französischen Soldaten in Besitz genommen wurde.
    Als sie durch den Tiergarten fuhren, lehnte sie sich zurück.
    Heinrich, fragte sie, ist es wirklich wahr?
    Heinrich nahm ihre Hand und drückte sie. Er legte einen Finger an seine Lippen. Schweigend fuhren sie, beide für sich in Gedanken, und so blieben sie die ganze Zeit, nebeneinander, ruhig atmend, heftig atmend, je nachdem, was ihnen gerade durch den Sinn ging, und immer wieder drückten sie ihre Hände, verkrallten sie ineinander, lösten sie wieder, ließen sie sanft beieinander liegen. Es war eine lange Fahrt, gute drei Stunden lang, allein durch den Grunewald brauchten sie zwei. Und doch kam es Henriette so vor, als verginge die Zeit wie nichts. Sie sah die kahlen Tannen und Buchen vorbeifliegen, manchmal schien eine Gestalt aufzutauchen und sie erschrak, doch es waren nur die Gestalten in ihrem Kopf, Personen, an die sie flüchtig, sehr flüchtig dachte, denn sie schob sie fort, sie wollte an nichts und niemanden denken, außer an Heinrich und sich selbst, an ihren Plan, an ihre letzten Stunden auf dieser Erde, an ihre letzte Nacht, die einzige, die sie in ihrem Leben zusammen verbringen würden, bevor sie für immer zusammen sein würden in einer Welt, von der sie keineswegs sicher sagen konnten, wie sie aussah. Ob sie dort nur stumm miteinander umherschweben würden, wie sie es sich manchmal ausgedacht hatten, über sonnige Wiesen mit Blumen, wortlos und zufrieden? Oder ob es dort eine eigene Sprache geben würde, in der sie sich nun endlich unterhalten könnten, ohne eine Begrenzung, ohne einen anderen, der sie störte und unterbrach? In einem war sich Henriette sicher: es wäre für sie wie ein ewiger Tag.Ein Tag, der die wundersamen Stunden der Nacht einschlösse, das Wispern, die heimlich anvertrauten Worte, ganz dicht am Ohr, eine Berührung fast, ein leiser Kuss, ein Hauch. Henriette fühlte ihren Puls wilder schlagen, sie fühlte eine fiebrige Hitze durch ihren Körper fluten, sie fühlte sich selbst wie nie zuvor und, zum ersten Mal in ihrem Leben, als vollkommene Herrin über ihr Schicksal. Ich bestimme den Tag meines Todes, dachte sie, und es erfüllte sie mit einem ungekannten Rausch, leicht und heiter. Sie sah die Bäume vorbeifliegen, den novembrigen, fast blätterlosen Wald, sie spürte Heinrich neben sich und nichts vom kalten Wind, der durch die Ritzen der Kutsche hineinpfiff.
    Die Kutsche war nicht gut gefedert, dafür machte sie kein einziges
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