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Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit

Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit

Titel: Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit
Autoren: Tanja Langer
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es anfangen würde zu schneien. Wenn man sie finden würde, auf einer weißen Fläche, sie, in ihrem leuchtend blauen Mantel, sie, in ihrem weißen Kleid. Von Weitem wird der Einschuss kaum zu sehen sein, talergroß, er wird den Stoff versengen, an den Rändern, ein wenig Blut daran – unterhalb des Herzens, soll ich dir die Stelle zeigen?
    Gelernt ist eben gelernt.
    So, setz dich hin. Mir gegenüber. Deine Beine nehme ich in das geöffnete V meiner Beine. Sieh mich an.
    Ich seh dich an. Heinrich. Liebster.
    Ich seh dich an. Henriette.
    Der Boden, auf dem ich sitze, fühlt sich kalt an, es macht nichts, es wird nicht lange dauern. Ich höre den Wind in den Wipfeln der Kiefern flüstern. Ich sehe deine hellblauen Augen. Ich bete ein letztes stilles Gebet, sekundenlang, ich falte meine Hände, ich presse sie aneinander, Liebster, ich sehe über die Oberfläche des Sees, er ist silbern, darüber dieser Himmel, der sich gleich auf uns senken wird, mit seinem taubengrauen Kleid, er wird mich umarmen, es wird ein schöner Augenblick – und dann – wir sehn uns wieder in der Ewigkeit, nicht wahr, mein Liebster, Heinrich –
    Ich seh dich an. Ich sehe in deine blauen Augen mit den hübschen dichten Wimpern. Ich werde mich beeilen müssen, aber ich will diesen Moment nicht vorzeitig beenden, damit ich dich sehe, wenn du dein Versprechen einlöst, deine Augen, wenn sie sich kurz nach oben drehen, wie in den Momenten tiefer Lust, ich werde in diesem Augenblick den Lauf in meinen Mund schieben, wenn dein Körper sich nach oben strecken wird, und bevordu nach hinten fallen wirst, aus dem Sitzen, werde ich es tun, denn ich will zuletzt in dein Gesicht sehen, Jette, mit der weißen, narbigen Haut, das letzte Licht des Tages wird sie unnatürlich leuchten lassen, dann siehst du am schönsten aus, ich werde da sein, ich habe es dir versprochen, gleich, ja, schnell, so ist es gut, so –

Nachtrag
    Henriette und Heinrich wurden am Kleinen Wannsee in zwei Särgen, aber in einem Grab beigesetzt, über dessen exakte Position sich die Gelehrten streiten. Anders als Heinrich es sich gedacht hatte, gab ihnen ein Geistlicher Geleit; er verlangte für Heinrichs Beerdigung 5   Reichsthaler und 6   Groschen und für Henriettes 2   Reichsthaler und 21   Groschen.
     
    Louis weigerte sich, den Leichnam seiner Frau anzusehen; er schickte den Tagelöhner Johann Riebisch, eine Haarlocke für ihn abzuschneiden. Ein halbes Jahr nach Henriettes Tod heiratete er die verwitwete Geheimrätin Julie Eberhardi; drei Jahre später bekamen sie eine Tochter.
     
    Pauline blieb bei ihrem Vater. Sie wurde zweiundneunzig Jahre alt. Sie heiratete und bekam drei tüchtige Söhne und zahlreiche Enkel. In ihrem Kalender notierte sie Geburtstag und Tod »ihres lieben geliebten Herrn Vater«, den ihrer »Mutter« vermerkte sie, ganz ohne Beiwort.
     
    Ernst wurde 87   Jahre alt. Er wurde Kriegsminister von Preußen und führte den Schwimmunterricht beim Militär ein. Zeit seines Lebens äußerte er sich diskret und voller Achtung über Heinrich, seinen Freund.
     
    Marie verteidigte ihren Freund, verbrannte aber etliche Briefe.
     
    Toussaint l’Ouverture erhielt im Fort de Joux ein Denkmal sowie eine Gedenktafel in seiner Zelle. Zu seinen Ehren vergibt die UN seit 2004 die Toussaint l’Ouverture Medaille, für besondere Verdienste gegen Hegemonie, Rassismus und Intoleranz.
     
    Haiti wurde während der Fertigstellung dieser Erzählung von einem entsetzlichen Erdbeben heimgesucht.
     
    Émile Liberté verschwand, ohne jede Spur.
     
    Henriette erhielt erst im Jahr 2003 einen kleinen Grabstein neben dem großen von Heinrich, am Kleinen Wannsee zu Berlin.
     
    Heinrich ist heute einer der meistgespielten, meistgelesenen und einflussreichsten Autoren der Welt.
     
    Berlin-Wannsee, Januar 2010
     
     
    Ich danke Horst Häker (Berlin) und Hans Christoph Buch (Berlin/Haiti), deren Wissen mir manchen Weg verkürzte.

Anmerkungen
    1
    Seinem Affen Zucker geben:
ausgelassen sein, im Rausch lustig sein, seiner Neigung nachgehen, seiner Eitelkeit frönen. Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten.
    2
    Kreolisch, etwas abweichend vom Französischen
vivre libre ou mourire
.
    3
    so übersetzte Heinrich Mann die »Gefährlichen Liebschaften«
    4
    Warum nur ist ein Wunsch uns mehr wert als eine Krone? Und warum, einmal erfüllt, ist er das Grab unsres Glückes?

Informationen zum Buch
    Am 21.   November 1811 erschoss der Dichter Heinrich von Kleist zuerst Henriette
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