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Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit

Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit

Titel: Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit
Autoren: Tanja Langer
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    In der letzten Nacht.
    Seltsamer Gedanke, dass einer weiß, es ist die letzte Nacht seines Lebens.
    Ich weiß nicht wirklich, was einer sich vorstellt, oder eine, jeder etwas anderes, jede, und beide gemeinsam. Heinrich und Henriette. Ich lebe in der Nähe von ihrer letzten Nacht, von dem Ort, an dem sie sich aufgehalten haben, dem Gasthof, den es nicht mehr gibt, den ich nicht mehr sehe, von dem ich nur wissen kann, weil ich etwas darüber gelesen habe. Ich fahre oft mit dem Fahrrad an dieser Stelle vorbei, am Ende der Brücke, die über die Verbindung zwischen dem Kleinen Wannsee und dem Großen Wannsee führt, Richtung Potsdam, und unter der Männer das ganze Jahr über angeln und unter der ich manchmal im Sommer hindurch rudere.
    Ich lebe auch in der Nähe ihrer allerletzten Stunde, falls man so sagen kann, von ihrem allerletzten Ort, am Nachmittag, der auf diese letzte Nacht folgte, gegen sechzehn Uhr, am 21.   November 1811, um genau zu sein, einem Donnerstag, an dem es zunächst überraschend mild war, sonnig und klar, bevor das Wetter zum Abend hin plötzlich umschwang, zum Winter hin, so wie es hier am Wasser nicht selten der Fall ist, eine solche Veränderung in wenigen Stunden. EintausenddreihundertzwölfSchritte sind es von mir zu der Stelle, an der damals eine Kiesgrube unter den Kiefern lag, am Kleinen Wannsee, mit dem Blick weit über den See hin, bis zur Kirchturmspitze von Kladow; ich sehe sie jedes Mal, wenn ich an ihr vorbeirudere; sie ist wiederum nur siebenhundertfünfzig Schritte entfernt vom »Neuen Krug«, auch »Gast hof Stimming« genannt, in dem Heinrich und Henriette die letzte Nacht ihres Lebens verbrachten und an dessen Stelle sich heute ein Yachthafen befindet.
    Ich denke immer wieder an Heinrich von Kleist in dieser letzten Nacht seines Lebens, in der er seinerseits an viele andere Nächte denken mochte, vielleicht an die Nacht in Paris, in der er sein erstes Stück zerriss und fortrannte, oder vielleicht die Nächte im Gefängnis, in französischer Kriegsgefangenschaft, im
Fort de Joux
, im Jura, einer Gegend, durch die ich durch Zufall einmal gekommen bin, in der ich sogar selbst eine Nacht verbracht habe. Ganz in der Nähe, so las ich im Prospekt unseres Hotels, das wir sehr spät am Abend hinter Dôle, einer beeindruckenden Festungsstadt im lieblichen Tal des Flusses Doubs, gefunden hatten, habe der deutsche Dichter Henri de Kleist im Gefängnis gesessen und an seiner weltberühmten Tragödie geschrieben, in der die Amazonenkönigin Penthesilea ihren Geliebten zerfleischt, Achill.
    In jener Nacht lag ich viele Stunden wach und sah aus dem Fenster des Hotelzimmers in den klaren, phantastischen Sternenhimmel hinaus und dachte an Heinrich von Kleist, in dessen Nähe in Berlin ich ja sozusagen lebe, und wie seltsam es war, ihn so überraschend an diesem Ort in einem Faltblatt für Touristen zu finden, und wie es ihm wohl in diesem Gefängnis ergangen seinmochte, und ich dachte an die letzte Nacht seines Lebens und das Nachdenken über das ganze Leben in einer einzigen, letzten Nacht. All das verschwand in einer tiefen Schicht meiner selbst, um Jahre später wieder aufzutauchen, Jahre, in denen ich durch weitere Zufälle noch andere Orte kennenlernte, an denen Kleist sich aufgehalten hat, bei seinem unermüdlichen Zickzack durch halb Europa, zu Fuß, zu Pferd und in der Kutsche, immer unterwegs zu neuen Lebensentwürfen, immer unterwegs auf der Suche, das Glück zu machen und einen Ort zum Schreiben zu finden, ob in Paris, Mainz, Berlin, Frankfurt an der Oder, der Stadt seiner Kindheit, oder Dresden, das er besonders liebte, oder Weimar, Prag und sogar Memel, das heute Klaipèda heißt und in Litauen liegt. Überall entdeckte ich etwas, das mit Heinrich von Kleist zu tun hatte, ein Museum, eine Gedenktafel, die Aufführung eines Theaterstücks, eine Ausstellung mit haitianischer Kunst oder das Kleid von Königin Luise im Heimatmuseum in Vilnius.
    Vor allem aber zog es mich immer wieder hin zu diesen letzten Orten seines Lebens, diesen letzten Stunden, am Wannsee, nur wenige Minuten zu Fuß von meinem Zuhause entfernt. Mehr und mehr beschäftigte mich Henriette Vogel, die ihn begleitet hat, und, vielleicht weil dort dieses Nachdenken begonnen hat, seine Zeit im Gefängnis, im Fort de Joux, im Jura. Mich lockte das Doubstal, das im warmen Abendlicht jenes sehr heißen Sommertags so zauberisch wirkte, das helle Band des Wassers, mit den hingeduckten Bäumen und Büschen, weich und
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