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Wir nennen es Politik

Wir nennen es Politik

Titel: Wir nennen es Politik
Autoren: Marina Weisband
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Literatur von ganzem Herzen und zwang meine Mutter förmlich, mir immer wieder Geschichten vorzulesen, die ich längst auswendig kannte. Sie nahmen mich mit ins Ballett und unterhielten sich mit mir stets wie mit einer Erwachsenen. Mir wurde früh Verantwortung für meinen kleinen Bruder übertragen und ich entwickelte mich zu einem dieser furchtbar perfekten Vorzeigekleinkinder, die durch gehobene Sprache und ausgesucht höfliches Benehmen auffallen.
    Ich komme allerdings auch nicht umhin – weil es wichtig für die Geschichte ist – zu erzählen, dass ich als Kind sehr krank war. Es begann etwa in meinem zweiten Lebensjahr als Immunschwäche und setzte sich in einer Reihe von Folgekrankheiten fort. Es war damals nicht außergewöhnlich, ich war »eben ein Tschernobyl-Kind«. Ich verbrachte große Teile meiner Kindheit im Bett, wo Bücher und Zeichenpapier meine einzige Ablenkung waren. Entsprechend früh musste ich lernen, selbst zu lesen. Ich schrieb Briefe, die ich oft mit dem Namen der Heldin des Buches, das ich gerade las, unterschrieb. Ich tat immer so, als sei ich jemand anders. Das ist normal, wenn man selbst zu sein gerade zufällig langweilig ist. Ich zeichnete und pflegte alle möglichen Arten von Eskapismus. Natürlich kam ich in meiner Situation, trotz meines Alters, nicht umhin, auch an den Tod zu denken. Als ich vier war, fragte ich meine Großmutter: »Aber Gott wird doch nicht zulassen, dass ich sterbe, oder?« Dieser Satz ist erhalten geblieben,weil er in unserer streng atheistischen Familie bemerkenswert war.
    Etwa um diese Zeit zerbrach die Sowjetunion endgültig und die Grenzen öffneten sich. Besonders für Juden bestand jetzt die Möglichkeit, das Land zu verlassen. Sie flohen nach Israel, in die USA oder nach Deutschland.
    Unsere Familie blieb damals im Land. Wir waren eine normale Familie, die sich wenig für die äußeren Umstände interessierte. Wir wollten einfach unser Leben leben. Einzig das Oberhaupt der Familie, mein Großvater David Semenowitsch Weisband, behielt die Umstände immer genau im Auge. Er war politisch interessiert, las Zeitungen und sah die Nachrichten. In den 1990ern war er selbst fast 90 Jahre alt. Als alter Offizier der Roten Armee betrachtete er die aus dem Land Fliehenden mit Skepsis. Er blieb und also blieben alle. Aber er beobachtete sehr genau, denn er hatte seit seiner Geburt vielfach erlebt, was Politik anrichten kann. Den Ersten Weltkrieg, die Revolution, die stalinistischen Säuberungen, den Zweiten Weltkrieg, die Ausschreitungen und Repressalien gegen Juden. Als die Lage im Land sich immer weiter verschlechterte, befürchtete er, dass der in der Sowjetunion ohnehin vorhandene Antisemitismus eskalieren würde. Und dann, 1993, sagte er plötzlich: »Wir gehen.«
    Und die gesamte Familie folgte ihm nach – ironischerweise – Deutschland, wo er zuletzt während des Krieges gewesen war. Jahre später würde er in seiner kleinen Dortmunder Wohnung über selbstgekochtem Borschtsch sitzen und erklären: »Ich wusste, dass sie nie gehen würden, wenn ich nicht gehe. Ich bin alt, ich habe mein Leben ehhinter mir. Aber so sind sie wenigstens rausgekommen. Rauskommen mussten sie.«
    Auch mein Vater folgte. Meine Mutter blieb mit mir und meinem kleinen Bruder zurück. Sie wusste nicht, ob sie nachkommen sollte. Sie hatte ein Baby und Arbeit und konnte sich ein Leben ohne ihre Heimat nicht vorstellen. Ich wurde aber immer kränker und die Ärzte immer ratloser. Als die einzige Medizin, die sie mir verschreiben konnten, Hoffnung war, beschloss meine Mutter, ebenfalls in den Westen zu folgen. Dort würde es bessere Ärzte geben, bessere Untersuchungsmethoden – oder wir wären wenigstens weiter weg von Tschernobyl. Vielleicht war es nicht die rationalste Entscheidung, aber es war die Entscheidung einer Mutter, die das Leben ihres Kindes retten will. Sie griff nach Strohhalmen. 1994 packte sie ein paar Koffer, nahm meinen Bruder auf den Arm, mich an die Hand und ging zum Flughafen. Ich hatte in einer kindlich überdramatischen Geste meiner Freundin die wenigen Puppen vererbt, die mein Vater mir aus Deutschland geschickt hatte. Kostbare Raritäten damals. »Hier, nimm sie«, hatte ich gesagt: »Wo ich hingehe, gibt es noch viel mehr davon.«
    Ansonsten bekümmerte mich im Wesentlichen, dass ich meinen Kater und mein Klavier zurücklassen musste. Meine Mutter hingegen fand sich mit zwei Kindern und schweren Koffern völlig allein am Frankfurter Flughafen wieder, wo sie
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