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Das Sonnentau-Kind

Das Sonnentau-Kind

Titel: Das Sonnentau-Kind
Autoren: Sandra Luepkes
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Hauptbahnhof Arad,
Rumänien grau und zugig
    Im Bahnhof ist eine Uhr mit großen leuchtenden Ziffern. Ich kann Zahlen lesen, du hast es mir beigebracht, als ich zehn Jahre alt war. Und ich weiß, was es bedeutet, wenn gleich die roten Striche umspringen und aus dem 23:59 eine 00:00 wird. Es heißt, dass ein neuer Tag begonnen hat. Es ist der Tag, an dem du endlich zurückkommen wirst. Ich kann es kaum erwarten. Mit einem der staubigen Züge wirst du dich auf den rostbraunen Gleisen in den Bahnhof schieben. Irgendwann heute.
    Ich stehe an eine Plakatsäule gelehnt und kaue auf einer Käserinde herum, die ich aus dem Container hinter der Bäckerei gefischt habe. Die Leute um mich herum sind müde und schlecht gelaunt. Eine alte Frau schimpft im Vorübergehen, ich solle verschwinden, ich sei Ungeziefer, ihr Gehstock trifft meine Schulter. Es tut nicht weh. Ich schreie zurück, ziemlich schmutzige Verwünschungen, das würde dir sicher nicht gefallen, wenn du mich hören könntest. Aber sie behandelt mich wie den letzten Dreck. Und ich werde mich nicht von diesem Ort hier entfernen. Ganz egal, wenn die Menschen mich vertreiben wollen. Selbst wenn die Kinder nach mir rufen – du weißt, wie sie sind, immer wollen sie was von einem, man soll Streit schlichten oder was zu essen besorgen –, und auch wenn das Aurolac ausgeht, der Klebstoff in der Tüte seine Wirkung verliert und mein Kopf anfängt zu schwellen. Ich werde hierbleiben. Ich möchte keinen Zug verpassen.
    Denn aus einem wirst du aussteigen. Und dann wird alles gut. Ich weiß es. Du wirst lächeln und mich in den Arm nehmen. Du wirst mir etwas Köstliches mitbringen, was ich noch nie gegessen habe. Du wirst mich nach den anderen fragen und wissen wollen, ob ich mein Lesen und Schreiben noch weiter verbessert habe. Du wirst wieder da sein. Und das bedeutet Glück.
    Ich weiß, wenn die Ziffern der Bahnhofsuhr das nächste Mal auf einen neuen Tag umspringen, wird das Jahr vorbei sein. Das Jahr ohne dich.
    Es ist so weit.
    00:00.
    Heute ist der Tag, an dem Aurel nach Hause kommt.

Lagerschuppen in einem Wald bei Aurich, Deutschland dämmrig und staubig
    «Schade» war das erste Wort, welches Wencke in den Sinn kam, als sie nach einem Jahr Abstinenz ihre erste Leiche sah. Sie erinnerte sich an viele andere Worte, die ihr im Laufe ihres Kriminalbeamtinnendaseins durch den Kopf gesprungen waren, wenn sie an einem Tatort eintraf. «Kopfschuss» war eines davon oder «Fehlalarm», manchmal auch «Igitt» oder ein deftiges «Scheiße». Doch noch nie hatte sie angesichts eines vermeintlich gewaltsamen Todes «Schade» gedacht.
    Der Junge, den man heute Morgen in einer abgelegenen alten Lagerhalle im Südbrookmerländer Moor gefunden hatte, hatte dichte schwarze Wimpern, die ihm fast bis zu den sichelförmigen Brauen reichten. Seine Augen mussten einmal geglänzt haben, als sie noch lebten. Die dunkle Haut war samtig, und das war es auch, was Wencke so schade fand, dass diese Haut weder warm noch pulsierend sein würde, wenn sie den Mut hätte, die Finger darauf zu legen. Manche Leichen sahen aus, als seien sie schon immer tot gewesen. Doch bei diesem jungen Mann hatte man das Gefühl, das Leben stünde noch neben ihm und wartete nur darauf, wieder in den Körper zu schlüpfen.
    Meint Britzke jedoch machte wie immer dasselbe: Er suchte sich in dem riesigen, schlecht beleuchteten Lagerraum eine Sitzgelegenheit – in diesem Fall einen derben Holzbalken –, zückte seinen Notizblock und begann mit der Aufklärung des Falles an Ort und Stelle. Während er mit dem Stift über das karierte Papier flog, murmelte er leise vor sich hin.
    «Männliche Leiche, Tod durch Erhängen, Seil bereits durchtrennt, Knoten unprofessionell, aber effektiv, Augen geöffnet, Hocker umgestoßen …»
    «Britzke», unterbrach Wencke ihren Kollegen. «Du kannst dir die Kritzelei sparen. Die Spurensicherung ist bereits auf dem Weg.»
    «Manche Dinge ändern sich nie: Wencke Tydmers wehrt sich mal wieder gegen bodenständige Polizeiarbeit.» Er blickte auf und grinste, sodass sein Oberlippenbart eine ganz neue Form bekam, nicht mehr nach Seehund aussah, eher nach den Schwingen einer Möwe. Sie hatte ihn schrecklich vermisst. Diesen Blick, diesen Kollegen, diesen Job.
    Ein Jahr lang hatte sie sich mehr um das Leben als um den Tod gekümmert. Es war eine Umstellung gewesen, sich auf das Windelwechseln zu konzentrieren statt auf Schusswunden. Brei zu kochen, statt Verdächtige zu vernehmen. Nun stand
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