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Wir nennen es Politik

Wir nennen es Politik

Titel: Wir nennen es Politik
Autoren: Marina Weisband
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riefen und mir die Feinheiten der deutschen Sprache beibrachten. Dafür bin ich ihnen dankbar, von allein hätte ich das nicht getan.
    Ich mochte die Schule. In Deutsch kam ich allerdings kaum mit. Meine Aufsätze waren grottenschlecht, ich machte Fehler in Diktaten. Ich hatte das mit den Nomen und Verben im Deutschen noch nicht ganz umrissen, als wir schon bei den Fällen waren. In Mathematik fühlte ich mich deutlich wohler. Im dritten Schuljahr arbeitete ich im Herbst schon das Mathebuch bis zum Ende des Jahres vor. Die Lehrerin bestellte damals meine Mutter zu sichund schimpfte, dass das so nicht gehe. Ich könne ja gar nicht mit anderen Kindern verglichen werden, wenn ich schon vorarbeite. Ich hingegen verstand nicht, was daran schlecht sein sollte, wenn ich irgendwas schnell lerne. Ich verstand nicht, was der Wert der Vergleichbarkeit aller Kinder war. Ehrlich gesagt, ich verstehe es bis heute nicht. Wir haben es mit völlig individuellen Kindern zu tun, von denen so ziemlich jedes seine eigenen Stärken und Schwächen hat. Wir zwingen in den einzelnen Fächern aber die Langsameren dazu, sich den Schnelleren anzupassen und umgekehrt. Das Lerntempo ist letztlich nur für wenige richtig und wir kämpfen mit schlechten Lernerfolgen auf beiden Seiten. Man könnte jetzt argumentieren, dass wir uns individuellere Förderung nicht leisen können. Aber, mit Verlaub, das ist gigantischer Schwachfug. Wenn wir uns überlegen, welcher Teil des wirtschaftlichen Erfolgs eines Landes von guter, früher Bildung seiner Bevölkerung abhängt, dann müssen wir uns sehr ernsthaft über eine Reform des Bildungssystems unterhalten. Aber ich schweife ab, darüber will ich später schreiben.
    Ich war 13, als ich meinen ersten Zugang zum Internet bekam. Die ersten paar Monate verbrachte ich eigentlich nur auf der Suche nach Katzenbildern und lernte ein wenig Java-Programmierung. Dann aber entfaltete sich für mich im Internet eine ganz neue Welt, die mein Denken ganz anders strukturierte.
    Wenn man »anders« ist – und das ist ein schlechtes Wort, denn alle sind anders, ich meine aber so anders, dass man irgendwie nicht in seine unmittelbare Gesellschaftpasst –, dann ist das größte Problem die Statistik. Nehmen wir an, man teilt seinen Humor und seine – möglicherweise kruden – Interessen mit etwa 1% der Bevölkerung. Die eigene Altersgruppe an der Schule besteht aus 120 Personen. Statistisch zu erwarten ist, dass eine Person in die richtige Kategorie fällt, und das ist man selbst. Das Internet hingegen bietet Zugang zu einer beinahe unbegrenzten Zahl an Menschen. So passiert es, dass sich dann plötzlich Hunderte zusammenfinden, die vorher, jeder für sich, allein waren.
    Ich interessierte mich damals für alles Mögliche. Besonders las ich mich in verschiedene Religionen und in Esoterik ein. Ich beschäftigte mich ein Jahr lang mit dem Ziel, etwas Nützliches zu erfinden, ohne eine Ahnung zu haben, was es werden soll. Ich lernte aus einer Schnapsidee heraus auch Japanisch und mochte japanische Manga und Anime, als diese in Deutschland noch unbekannt und kaum verfügbar waren. So fand ich zu einem Internet-Forum, das »Evanet« hieß. Es war eine Interessengemeinschaft rund um den Anime »Neon Genesis Evangelion«. Auch und gerade wenn Sie bis jetzt noch immer nichts davon gehört haben, können Sie sich vorstellen, wie obskur dieses Interessengebiet war, und ich habe vollstes Verständnis für meine Mitschüler, wenn ich unter ihnen nur eine einzige Person fand, die meine Leidenschaft teilte. Online waren es naturgemäß eben mehr. Zum Evanet gehörten ein Forum und ein Kanal im IRC -Chat, in dem fast immer jemand rumhing. Administriert wurde das Ganze von einem gewissen Steven Schalhorn, den wir nur als Iki kannten, und dann bald auch von mir. Ich kamnach der Schule nach Hause und wählte mich erst mal ins Internet ein. Das hat gestört, weil wir damals nicht gleichzeitig telefonieren konnten. Als ich in den Chat kam, saßen da zehn bis zwanzig meiner Freunde. Wir wussten alles übereinander. Wer wann seine Klausuren hatte, wer zuhause Probleme hatte, welche Geschwister, welche Traumata. Gut, wir wussten vielleicht nicht, wie der Gegenüber wirklich hieß. Aber das nur, weil wir nie gefragt hatten. (Was zu interessanten Szenen führte, wenn wir einander anriefen und die Eltern rangingen: »Guten Tag, Frau äh … Ist Iki zuhause? Also … Ihr Sohn … ähm.«) Schon bald wurde es von niemandem mehr als »virtueller Raum«
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