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Wir nennen es Politik

Wir nennen es Politik

Titel: Wir nennen es Politik
Autoren: Marina Weisband
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empfunden, sondern nur als Werkzeug, den lästigen Raum zwischen uns zu überwinden. Dieser Chat wurde für uns zu einem Ausweichzuhause, zu einem Ort, an dem wir auch in schlechteren Zeiten akzeptiert wurden. Einmal, ich war gerade 14, kam Steven mich besuchen. Er wohnte in Berlin und es war alles umständlich. Aber dass sich jemand so sehr für mich interessierte, dass er den weiten Weg fuhr, schmeichelte mir. Irgendwann hinterließ er mir im Quellcode des gemeinsam administrierten Forums eine Liebeserklärung inmitten von HTML-Tags. Das Internet ermöglichte so eine mehrjährige Beziehung zwischen zwei Menschen, die sich sonst nie getroffen hätten.
    Ich traf mich auch mit vielen anderen aus unserer kleinen Community. Die meisten waren älter als ich, einige studierten sogar schon. Ich fand endlich eine Gelegenheit, über Philosophie zu reden und all die Bücher, die ich gern las. Ich lernte, dass es keine »falschen« Menschen gibt. Dass es einfach Menschen gibt, die nicht in ihrer richtigenUmgebung waren. Das ist der Gedanke der absoluten Gleichwertigkeit der Menschen bei vollständiger Unvergleichbarkeit. Er klingt zunächst banal. Aber man muss sich vorstellen, dass mein Weltbild bis dahin davon geprägt war, dass es angeblich bessere und schlechtere Menschen gibt und dass ich zu den letzteren gehöre. Tatsächlich ist es auch ein Bild, das in weiten Teilen unserer Gesellschaft verankert ist. Wir neigen dazu, Menschen verrückt oder dumm zu nennen, wenn sie nicht unseren Vorstellungen entsprechen. In Wirklichkeit kann es aber sein, dass wir irgendwann genau die Andersartigkeit dieser Menschen brauchen. Einer der Gründe, warum ich so sehr an Vernetzung glaube, ist eben dieser Gedanke. Erst das Netz hat es ermöglicht, dass jeder seine Nische findet und dort seine Gleichwertigkeit begreift. Vielleicht sind es auch gerade die Kontakte unter Gleichgesinnten, die neue und kreative Ideen in produktive Bahnen lenken. Wenn ein Don Quichotte gegen Windmühlen kämpft, sieht er aus wie eine traurige und lächerliche Gestalt. Wenn sich mehrere Don Quichottes zusammenschließen, können sie einen Ritterverein gründen und Showkämpfe veranstalten, und viele würden mit großem Interesse zusehen. Außerdem dienen Netze dazu, verschiedene Persönlichkeiten aus verschiedenen Bereichen wieder zu verbinden, ohne Zwang und räumliche Enge, sondern in einer funktionalen Konstellation. In meinem neuen Umfeld lernte ich nach und nach meine Unzulänglichkeiten als Fortsetzung meiner Talente zu verstehen. An der Schule machte ich eine Ausbildung zum Streitschlichter, ich spielte Theater und ich begann, zu zeichnen und Stegreifgedichte zu verfassen.Sobald ich konnte, mit achtzehn, machte ich die Schule fertig, suchte mir einen Studienplatz und zog von zuhause aus, nach Münster.
    Münster, wie es der Zufall will, ist der schönste Ort der Welt. Man könnte mir jetzt widersprechen, aber das hier ist ein Buch, darum kann man mir nicht wirklich widersprechen. In Münster habe ich viele Freunde gefunden und bin schnell bei einer Theatertruppe gelandet. Da lernte ich nicht nur Herrn Rosenfeld kennen, der während der wichtigsten Zeit meines bisherigen Lebens an meiner Seite war. Die Truppe hat mich auch zu den Piraten gebracht.
    Eines Tages schauten Herr Rosenfeld und ich uns online ein paar Wahlwerbespots von Kleinparteien zur Europawahl an. Ich muss an dieser Stelle ehrlich sagen, dass mich der politische Aspekt kein Stück interessierte. Politik war etwas für Deutsche. Für Leute, die hier geboren waren, die Geld und Kontakte hatten. Ich glaubte einfach daran, dass die das schon irgendwie regeln. Ich schaute mir die Spots nur aus Vergnügen an. Und tatsächlich haben wir uns über vieles totgelacht, was einige Parteien so verzapften. Je schlechter der Spot produziert war, desto besser. Wir saßen an einem schwülen Nachmittag auf dem Sofa vor dem PC und kringelten uns vor Lachen. Dann stolperte ich über eine obskure Kleinpartei, die sich »Piratenpartei« nannte. Ich glaubte zuerst, dass sie – dem Namen nach – auch nichts anderes als die APPD oder eine andere Scherzpartei sein konnte. Aber die Menschen, die in dem Videospot auftauchten, wirkten seltsam echt. Sie sagten sehr richtige Dinge. Ich befasste mich noch einwenig mit den Ansichten dieser Partei. Mich überzeugte natürlich stark, dass sie netzaffin war. Das war damals eine ganz oberflächliche Betrachtung, »die sind mir ähnlich«. Der Gedanke, dass Bürger wissen
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