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Wir nennen es Politik

Wir nennen es Politik

Titel: Wir nennen es Politik
Autoren: Marina Weisband
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von einer fremden Sprache und fremden Menschen umgeben war, ohne Hilfe, ohne Geld. Wir blieben kurz in einer Notwohnung in Dortmund (»Notwohnung« nannte man diese Flüchtlingscontainer). Dann zogMutter mit uns bei meinem Vater in Wuppertal ein, klammerte sich nachts an uns und weinte.
    Es tut mir leid, dass ich das nicht lockerer oder witziger beschreiben kann. Aber so war es nun mal. Es ist schwer zu vermitteln, welche Schuld man auf sich fühlt, wenn ein anderer Mensch buchstäblich alles geopfert hat, um dein Leben zu retten, sogar wenn es die eigene Mutter ist. Ich könnte natürlich all die lustigen Missverständnisse schildern, die jemandem ohne Deutschkenntnisse so passieren. Aber Migration wird in der Psychologie nicht grundlos als traumatisches Lebensereignis betrachtet. Es ist weit mehr als der Wechsel des Wohnortes. Für viele ist es der Ausfall von Kommunikation mit der Außenwelt, eine Verdrehung sämtlicher bekannter Regeln, eine neue, oft feindliche Umwelt. Die Umgangsformen verlieren jeden Bezugsrahmen und es gibt niemanden, der helfen kann, sich zu orientieren. Dass es inzwischen mehr Integrationsprogramme gibt, ist ein Verdienst der Bundesrepublik. Aber es muss noch viel mehr geben. Denn irgendjemand muss Menschen auffangen, denen der Boden unter den Füßen entrissen wurde. Wir müssen zu einem umfassenden Verständnis für die Lebenssituation von Migranten kommen, damit integrationspolitische Maßnahmen erstens sinnvoller werden und zweitens mehr Akzeptanz in der Gesellschaft erfahren. Es ist nicht Mitleid, das ich mir für Immigranten wünsche, sondern lediglich eine Struktur, die es ihnen erlaubt, dieses Land zu einem neuen Zuhause zu machen. Ich erinnere mich an die Angst meiner Mutter und ich schwor mir, dass nichts von dem vergebens seinwürde. Dass ich alle meine Fähigkeiten gebrauchen würde, um der Gesellschaft zu dienen. Nicht zuletzt beschäftige ich mich heute mit der Anerkennung ausländischer Abschlüsse, weil nicht nur meine Mutter, sondern auch viele unserer Bekannten in ihrem Heimatland völlig umsonst studiert haben. Sie mussten in ihrem neuen Land entweder eine neue Ausbildung machen oder weit unter ihrer Qualifikation arbeiten. Der Absturz von einem behüteten Leben ins Nichts ist ein Motiv, das ich in meinem Umfeld wieder und wieder sah und mich sehr dazu motivierte, Dinge zu verändern.
    Unser Flugzeug landete in Deutschland im Frühling, am Ende des Sommers musste ich in die Schule. Eigentlich hatte ich mich auf die erste Klasse der Ukraine vorbereitet. Ich konnte lesen und schreiben, schrieb in meiner Freizeit unter Anleitung meiner Mutter Diktate und Aufsätze auf Russisch. Deutsch hingegen konnte ich gar nicht. Am ersten Schultag im August war ich also sehr nervös. Wir waren eben zum dritten Mal innerhalb weniger Monate umgezogen und alles war noch in Kisten verstaut. Meine Mutter packte mir eilig die Sachen.
    »Was ist, wenn mich in der Schule jemand anspricht und ich verstehe überhaupt nichts?«, fragte ich besorgt. »Das wirst du schon schaffen«, antwortete sie. Mehr nicht. Aber was hätte sie auch sagen sollen? Meine Schulzeit begann unzeremoniell, ohne Schultüte, ohne Begleitung. Nach einigen Wochen riet die Schulleitung meinen Eltern, mich erst einmal in Kur zu schicken, um etwas gegen meine Krankheit und mein Untergewicht zu tun. So verbrachte ich die Wochen und Monate abwechselnd in derSchule und an der Nord- und Ostsee, in Solebädern, auf Diäten und bei diversen Untersuchungen. Ich war bei den Kuren von meinen Eltern getrennt, und damit von jedem, der meine Sprache sprach. Ich brauche nicht zu erwähnen, dass das beängstigend und unangenehm war, aber es hatte zwei nette Nebeneffekte. Erstens wurde ich wieder halbwegs gesund. Zweitens lernte ich nicht nur schneller Deutsch, sondern auch, mich an neue Situationen anzupassen. Ich beobachtete, was die anderen Kinder aßen, was sie sangen und spielten, was bei ihnen bestraft und was belohnt wurde. Natürlich gab es oft Missverständnisse. Ich wurde ewig dafür angepflaumt, dass ich alles zu langsam tat. Meiner Familie hingegen wurde ich mit der Zeit zu ungeduldig. Ich versuchte, die Geschwindigkeit meines Redens und Handelns der Umgebung anzupassen. Aber so richtig ist mir das nie gelun-gen. Ich spielte nicht Fangen, ich saß lieber auf der Bank und sang. Ich mied Konflikte und zog mich oft zurück. Es war ein riesiges Glück, dass einige Mädchen in meiner Straße mich ständig nach draußen zum Spielen
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