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Wir nennen es Politik

Wir nennen es Politik

Titel: Wir nennen es Politik
Autoren: Marina Weisband
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die zurzeit nicht zielführend sind, durch feste Regeln, dynamische Strukturen und Nachvollziehbarkeit verbessert werden können. Und ich werde mich dem großen Thema widmen, was man von den Menschen erwarten muss, die sich in solch einem veränderten politischen System bewegen. Damit meine ich sowohl die Menschen, die einen überwiegenden Teil ihrer Zeit in Politik investieren und darum Politiker genannt werden, als auch die Menschen, die damit scheinbar nichts zu tun haben, in Wirklichkeit aber alles beeinflussen. Denn große Teile unserer wahrgenommenen Missstände sind gar nicht durch Regeln und Gesetze aufzuheben. Vieles liegt im menschlichen Verhalten. Verhalten ist etwas, das einerseits sehr leicht zu ändern ist, weil jeder es tun kann, andererseits sehr schwer, weil jeder es tun muss. Wenn wir also Politik ändern wollen, muss jeder von uns das tun, nicht nur »jemand dort oben«. Und hier schließt eine wichtige Warnung an, die ich gleich am Anfang loswerden will.
    Wenn man politische Thesen formuliert, liegt dem immer ein bestimmtes Menschen- und Weltbild zugrunde. Stark verkürzt kann man sagen, dass sich darauf die verschiedenen politischen Parteien und Lager gründen. Viel Politik, die Sicherheit verschärft und neue Regeln und Verbote einführt, basiert auf grundsätzlichem Misstrauen gegenüber vielen Menschen. Die Erwartung, dass eine gute Regelung zu Schlechtem missbraucht werden kann, hat manche gute Regelung verhindert. Mein Weltbild geht genau vom Gegenteil aus. Politik, wie sie meiner Meinung nach funktionieren sollte, hat viel mit Mitbestimmung,mit Interesse und Engagement zu tun. Sie geht von Bürgern aus, die halbwegs gebildet und interessiert sind, fair und mehr oder weniger fähig zu Reflexion. Utopisch, nicht wahr? Ich fordere viel von den Menschen. Mir wird oft unterstellt, dass dieses Menschenbild übertrieben positiv sei, dass ich nur mal abends mit dem Bus fahren müsse, um zu sehen, für welche Menschen ich Politik mache. Und dann kommt auch noch Churchill in meinen Kopf und behauptet, das größte Argument gegen Demokratie sei ein fünfminütiges Gespräch mit dem durchschnittlichen Wähler. Dieser Gedankengang ist der Hintergrund jeder Regelung, die Mitbestimmung hier und da aus pragmatischen Gründen beschneiden will. Auch ich kann mich nicht davon freisprechen, immer wieder anzuzweifeln, ob das, was ich erreichen will, so eigentlich realistisch ist und ob ich nicht zu viel vom Menschen halte. Aber ich glaube nicht, dass ich zu viel vom Menschen halte. Denn »Menschenbild« setzt etwas Statisches voraus, Menschen und ihre Umwelt befinden sich aber in einem dauerhaften, gegenseitigen Beeinflussungsprozess.
    Wer damit aufwächst, etwas entscheiden zu können, wird auch größere Verantwortung für diese Entscheidung zu übernehmen lernen, als jemand, der immer bevormundet wurde. Bürger von der Politik fernzuhalten, weil sie was kaputt machen könnten, ist eine grundsätzlich problematische Haltung. Wir können auch Kinder von der Straße fernhalten, weil ihnen etwas passieren könnte. Wir dürfen dann nur nicht erwarten, dass sie sich als Erwachsene souverän im Straßenverkehr bewegen. Ich will das mit der Demokratie so weit wie möglich ausgestalten. Grundlegenddafür erscheint mir das Vertrauen in Menschen. Und obwohl ich bei manchen E-Mails oder Leserkommentaren bisweilen Zweifel an meinem Weltbild bekomme, bleibe ich doch bei der steilen These, dass ein adäquateres politisches System auch besseren menschlichen Umgang bedingen wird. Ich will auf die Mechanismen, die ich dahinter vermute, später ausführlicher eingehen. Aber ich glaube daran, dass es aus dem Wald hinausschallt, wie wir hineinrufen. Ich habe darüber nachgedacht, seit ich klein war. Es ist ja kein Zufall, wenn man sich mit solchem Irrsinn beschäftigt. Ich will im Folgenden darauf eingehen, wie viele Faktoren erst zusammenkommen mussten, um diese Gedanken reifen zu lassen.

Kurz aus dem Leben
    »Wenn du dich nicht um Politik kümmerst, kümmert sich die Politik irgendwann um dich.«
    Russisches Sprichwort

Als der Jubel losbrach, bewegte ich mich nicht. Alle außer mir waren aufgestanden, der ganze Saal applaudierte. Meine Tischnachbarn lächelten mir zu, legten mir Hände auf die Schultern. Nur ich bewegte mich nicht. Ich glaube nicht, dass ich damals einen bestimmten Gesichtsausdruck hatte. Es war alles wie in Watte gepackt. Das Lächeln einer Berlinerin, die Kameras für den Webstream, der Versammlungsleiter
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