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Wir nennen es Politik

Wir nennen es Politik

Titel: Wir nennen es Politik
Autoren: Marina Weisband
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wie wir gern historische Ereignisse einzelnen Menschen zuweisen. Ich glaube, dass ein System, das sich lange gehalten hat, einfach gut an die Bedingungen und den Erfahrungsstand der jeweiligen Gesellschaft angepasst war. Eine Gesellschaft mit einer völlig ungebildeten Schicht entwickelt eine große Distanz zwischen Elite und Bevölkerung, weil nur wenige gebildete Funktionsträger in der Lage sind, über Konsequenzenihres Handelns zu reflektieren, beziehungsweise dies dürfen. Das erlaubt ihnen, Entscheidungen für die Gesellschaft zu treffen. Gleichzeitig sichert ihre Bildung auch ihre Macht, denn niemand anders kann ihr Handwerk übernehmen. Solange Bildung nicht verfügbar und nicht erwünscht ist, ist das System gut angepasst. Wenige entscheiden, viele arbeiten. Das bewerte ich hier nicht moralisch, sondern nur funktional. Schwieriger wird es, wenn Wissen und Bildung sich als Wert in breiten Bevölkerungsschichten durchsetzen. Wenn die Anzahl derer, die zumindest lesen können, sich erhöht. Dann funktioniert ein großes Machtgefälle nicht mehr auf Dauer, wie wir an der Aufklärung und ihren langfristigen Folgen beobachten konnten. Natürlich ist das sehr vereinfacht ausgedrückt als Beispiel dafür, welchen Einfluss Bildung auf Politik nehmen kann. Politische Systeme ändern sich in Abhängigkeit von Erfindungen, Infrastruktur, Reichtum und Einstellungen in der Gesellschaft. Meiner Meinung nach sollte der Mensch sich das System suchen, in dem er unter gegebenen Umständen möglichst optimal über seine Lage, sein Glück oder Unglück, entscheiden kann.
    Der Grund, warum ich dieses Buch überhaupt schreibe, ist, dass ich unsere Gesellschaft auf der Schwelle einer Veränderung sehe, die das jetzige politische System modifizieren wird. Unabhängig davon, ob wir das für richtig oder falsch, gut oder schlecht halten, wird eine Veränderung eintreten. Diese Veränderung hat mit einer scheinbar einfachen Erfindung zu tun.Wie kann eine Erfindung die politische Landschaft verändern? Das wissen wir bereits. Es gab einmal einen Typen (sein Name war Thomas Newcomen; er geriet zugunsten von James Watt in Vergessenheit), der eine Maschine zum Abpumpen von Wasser baute. Die Maschine funktionierte mit Dampf und konnte Dinge drehen. Sie wurde im Laufe der Zeit immer weiter verbessert und – weil sie Dinge drehen konnte – für eine Vielzahl von Aufgaben eingesetzt. Man baute zum Beispiel ein Fortbewegungsmittel, das auf Schienen fuhr und viel schneller war als ein Pferd. Die Eisenbahn hat die Welt vernetzt und das Reisen verändert. Und nicht nur das Reisen. Durch den schnellen Transport wurden neue Geschäftsideen möglich. Durch das ganze Land legte man Schienen. So veränderte sich auch das Leben derer, die nie in ihrem Leben in eine Eisenbahn gestiegen waren. Durch ihr Dorf führte eine Strecke, das heißt, es gab einen Bahnhof. Es gab neue Arbeitsplätze und neue Produkte im Dorf, man erfuhr schneller Neuigkeiten und war mobiler. Mit den Bahnhöfen kamen die Bahnhofsuhren und damit vielerorts zum ersten Mal eine Art abstrahierte, objektivierte Zeit in das Leben der Menschen. Man muss mit einer Erfindung nicht in direktem Kontakt stehen, damit sie das eigene Leben verändert. Ein großer Teil der Arbeit wurde mechanisiert. Menschen wurden gebraucht, die diese Maschinen bedienten. Die Macht wurde neu verteilt. Nicht mehr der Schmied hatte die Macht über seine Arbeit, sondern der Besitzer der Maschine. Anfangs schöpften die Besitzer der Maschinen aus ihrer Machtstellung, doch dann kam die Bewegung der Arbeiter auf. Die Arbeiter wohlgemerkt, die es ein halbesJahrhundert zuvor noch gar nicht gegeben hatte und deren Rechte deshalb auch niemand vertrat – diese Arbeiter schlossen sich zusammen. Aus einer ihrer Vereinigungen ging in Deutschland die heutige SPD hervor. Sie hat seinerzeit die Rechte des Arbeiters definiert und sich dafür eingesetzt. So ging aus der Erfindung einer Dampfmaschine eine politische Partei hervor. (Und die industrielle Revolution und die globale Vernetzung, ein paar andere Revolutionen und eine ganze Menge mehr.)
    Ich beschreibe dieses Beispiel, um zu zeigen, wie weitreichend die Folgen einer einzigen Erfindung sein können. Denn genau darum soll es gehen. Auch die Geschichte dieses Buches beginnt mit einer einfachen Erfindung.
    Lange bevor man sich vorstellen konnte, was diese Erfindung werden würde, sprachen Menschen nur miteinander. Es war die einzige Art der Kommunikation – aber eine
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