Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Geheimnistraeger

Der Geheimnistraeger

Titel: Der Geheimnistraeger
Autoren: Thomas Kanger
Vom Netzwerk:
Prolog
    »Sorry!«
    Die Frau lächelte ihn an und legte ihm eine Hand auf den Arm. Der Mann, mit dem sie gerade zusammengestoßen war, erwiderte ihr Lächeln und hob die Hände in einer verzeihenden Geste. Wer konnte schon einer schönen, lächelnden Frau böse sein? Wenn ein solches Wesen etwas unbeholfen war, wirkte das eher charmant. Er drehte sich um und schaute ihr nach, als sie auf den lärmenden Hovedbanegården zuging. Dann setzte er seinen Weg in die entgegengesetzte Richtung, aufs Zentrum zu, weiter fort. Es war ihm entgangen, dass man ihn von zwei Seiten angerempelt hatte. Als die Frau ihn anstieß, war gleichzeitig eine andere Person an ihm vorbeigestrichen, hatte mit geschickten Fingern seine Gesäßtasche durchsucht und ihn um sein Portemonnaie erleichtert.
    Der Mann sah sich um, unsicher, in welche Richtung er gehen sollte. Hinter ihm strebten die Passanten alle eigenen Zielen entgegen. Niemand schien sich um ihn zu kümmern. Aber sicher konnte er sich nicht sein. Er wollte nach links gehen, an einer Mauer entlang und auf etwas zu, was wie eine Hauptstraße aussah. Die Unruhe trieb ihn vorwärts. Um die Ecke befand sich rechter Hand ein großes klassizistisches Portal. Viele Kinder, die lachten und lärmten. Es schien ein Vergnügungspark
zu sein. Er hob den Blick. Tivoli . Ein Flashback aus der Kindheit: Die Achterbahn hatte ihm am meisten Spaß gemacht. Er liebte dieses Gefühl in der Magengrube, wenn es steil nach unten ging. Aber wie lange das alles her war. Eine andere Zeit und ein anderes Land. Ein anderes Leben.
    Der Bürgersteig endete an einer Querstraße, die zu einem großen Platz führte. Er schaute am Eckhaus hoch und las das Straßenschild: H.C. Andersens Boulevard. Auf dem Platz ein Gewimmel von Menschen, viele von ihnen offenbar Touristen. Auf der anderen Seite, am Ende einer Fußgängerzone, herrschte besonders großes Gedränge. Die Sonne schien. Sommer, sicher fünfundzwanzig Grad warm. Es war in der Mitte des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends, und es war einer jener heiteren, sorglosen Tage.
    Er überquerte die Straße und gelangte auf den Platz. Eine Gruppe Japaner mit gelben Schirmmützen wechselten sich damit ab, einander vor einem großen roten Backsteinbau zu fotografieren. Das Gebäude besaß einen hohen Glockenturm. Das Rathaus?
    Mitten auf dem Platz wurde er von einer Frau angehalten. Sie schob einen Kinderwagen. Neben ihr stand ein Mann, vielleicht der Vater des kleinen Mädchens im Kinderwagen. Der Mann und auch die Frau trugen eine Sonnenbrille.
    » Excuse me «, sagte die Frau und hielt ihm einen riesigen, altmodisch wirkenden Fotoapparat hin. »Take photo, please?«
    Sie ließ den Fotoapparat beinahe in seine Hand fallen, noch ehe er antworten konnte.
    Osteuropäer, dachte er und zuckte mit den Achseln. Die Frau und der Mann wichen mit dem Kinderwagen ein großes Stück zurück und bauten sich vor dem großen Backsteingebäude auf. Beide lächelten breit.
    Er versuchte, sowohl das Paar als auch das Gebäude mit dem
Sucher zu erfassen, und trat ein paar Schritte beiseite, um sie besser ins Bild zu bekommen. » Just push? «, fragte er laut. Die Frau lächelte und nickte.
    Er schaute erneut durch den Sucher. Die Frau kam ihm irgendwie bekannt vor. Sie trägt sicher eine Perücke, dachte er für den Bruchteil einer Sekunde, bevor er den Auslöser drückte.
     
    Sechs Wochen vorher umarmte in einer Stadt hundert Kilometer südwestlich von Kopenhagen Doris Lund ihren sechsjährigen Sohn. Der Junge sollte zu Hause bei seinem Vater bleiben, während sie Kleider für sich kaufte.
    Jedes Mal wenn sie ihn verließ, hatte sie das Gefühl, ihn ein wenig im Stich zu lassen. Aber gleichzeitig war die Shoppingrunde entspannend. Bereits wenige Minuten, nachdem sie von zu Hause weggegangen war, war sie mit ihren Gedanken nur noch bei ihren bevorstehenden Einkäufen. Die Kleider sollten perfekt sitzen. Ihrem leichten Übergewicht wollte sie keine Beachtung schenken.
    Doris ging zu Fuß, die Abstände in der Stadt waren nicht groß. Die Familie wohnte in Halsskov, einem Stadtteil im Norden, aber von dort aus war es nur ein guter Kilometer in die Fußgängerzone im Zentrum auf der südlichen Seite. Eine kurze Brücke über einen schmalen Sund verband die Stadtteile miteinander.
    Sie ging systematisch die Kollektionen in den Geschäften an der Nygade und der Algade durch. Hielt die Kleidungsstücke vor dem Spiegel vor sich hin, drehte sich hin und her und probierte einiges.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher