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Wir haben keine Angst

Wir haben keine Angst

Titel: Wir haben keine Angst
Autoren: Pauer Nina
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schweigt. Sie zupft an den Ärmeln ihres Kapuzenpullis, aus dem nur noch ihre Fingerkuppen herausschauen. »Ach, ich weiß auch nicht … Ich bin irgendwie einfach grad in so ’nem Deprikoller gefangen.«
    »In einem was?«, Herr G. beugt sich zu Anna vor.
    »Na, in so ’nem Tief.« Annas Lippen zittern leicht. Sie presst sie fest aufeinander. »Irgendwie häng ich nur noch lethargisch rum.«
    »Aber Sie waren doch auch krank?«
    »Hmm.« Anna scheint Herrn G. gar nicht richtig zu beachten.
    »Oder ist irgendwas passiert?«, fragt Herr G. vorsichtig.
    »Nee«, Anna seufzt. »Nee.« Sie rutscht tiefer in ihren Stuhl. »Ach, ich hab bestimmt einfach nur ein bisschen zu viel melancholische Musik gehört, als ich krank war. Ich hab halt einfach zu lange vor mich hingestarrt und darüber nachgedacht, wie sinnlos alles ist«, murmelt sie leise.
    »Was meinen Sie mit alles?«, fragt Herr G. behutsam.
    »Naja,
alles
halt«, entgegnet Anna ihm trotzig. Es klingt wie ein Vorwurf. »
Eigentlich
ist doch
alles
krass
sinnlos

    Herr G. nickt entschieden. »Ja, da haben Sie natürlich recht«, sagt er.
    »Was?« Anna schaut von ihren Pulloverärmeln auf.
    »Naja«, Herr G. hebt bedauernd seine Hände, »ich kann Ihnen jetzt ja auch keinen Beweis dafür geben, was für einen Sinn die Welt genau hat.«
    Anna lächelt ihn schräg an. Herr G. lächelt zurück. Er trinkt einen Schluck Tee. Niemand sagt etwas.
    »Ach, tut mir leid«, sagt Anna müde. »Ich weiß grad einfach echt nicht, worüber wir heute sprechen sollen.«
    »Das ist vollkommen in Ordnung.«
    Anna nickt. »Wir können ja übers Wetter reden oder so«, schlägt sie halbherzig vor.
    »Wenn Sie mögen«, sagt Herr G.
    »Nee, eigentlich nicht.«
    Wieder schweigen beide. Draußen im Dunkeln hört man von weitem das Geräusch eines Krankenwagens. Anna setzt sich etwas im Stuhl auf.
    »Haben Sie das am Wochenende eigentlich auch mitbekommen, den Alarm da?«, fragt sie und deutet mit dem Kopf in Richtung Fenster.
    Herr G. lächelt. Er schüttelt den Kopf. »Welchen Alarm?«
    *
    Wir alle sind voller Neid auf unsere Eltern. Während wir oft das Gefühl haben, uns jeden Tag aufs Neue in den unendlichen Informationenfluten nur knapp über Wasser halten zu können, scheinen sie und alle anderen Leute in ihrem Alter gleich ein ganzes Universum an Meinungen über sich schweben zu haben, aus dem sie sich jederzeit frei bedienen können. Für sie scheint der Schritt von den Informationen zur Meinung irgendwie ein ganz einfacher zu sein.
    Aber nicht nur auf das, was unsere Eltern heute sagen, sind wir neidisch. Sondern auch auf den Rudi. Und den Joschka. Und den Biermann. Und auf die Pappmaché-Masken des Schahs, die noch irgendwo neben den Stones-Platten auf dem Dachboden modern.
    Wir beneiden unsere Eltern um ihre Vergangenheit. Denn sie waren dabei, damals, in einer ganz anderen Zeit. In der, so scheint es uns zumindest heute, irgendwie alles automatisch schon politisch war. In der man nur das tun musste, was man sowieso vorhatte – an die Uni fahren, auf Partys gehen, sich mit Rotwein betrinken, die Haare wachsen lassen, tanzen und knutschen –, und schon war man politisch.
    Man brauchte einfach nur zu leben. Und schon war das ein Statement.
    Ob das wirklich stimmt und ob das Leben in einer WG mit ausgehängter Klotür und dauerbekifften, verstrahlt die Revolution ausrufenden Kommunekollegen wirklich so grandios war, ist für unseren Neid komplett nebensächlich. Es ist uns eigentlich sogar total egal, ob unsere Eltern selber wirklich Achtundsechziger waren. Für uns sind sie es. Einfach, weil sie dabei waren. Oder zumindest in der Nähe.
    Und dass wir die Zeit, die sie da mitbekommen haben, irgendwie sexy finden, kann man uns auch nicht mehr ausreden. Die vergilbten Bilder von verplanten Hippie-Menschen, die in ihren Badewannen Bier brauten, sind nun mal einfach cooler als unsere Digitalfotos von in Schlammbowle schwimmenden Zigarettenstummeln. Die alte Lässigkeit lässt sich damit einfach nicht toppen. Und die alte Form politischen Engagements schon mal gar nicht.
    Vermutlich sind die Zeiten dafür einfach für immer vorbei. Politik ist etwas von gestern. Und für uns ist davon einfach nichts mehr übrig geblieben.
    Außer vielleicht das bisschen Neid. Und das schlechte Gewissen, selber nie bei irgendwas dabei gewesen zu sein.
    *
    Bastian sitzt auf dem Klo. Er blättert in einer abgewetzten Broschüre
Unnützes Wissen
. Das Radio über der Tür, das irgendeiner von
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