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Wir haben keine Angst

Wir haben keine Angst

Titel: Wir haben keine Angst
Autoren: Pauer Nina
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praktischen Folgen für unsere kleinen Leben zu übersetzen.
    Tschernobyl, das bedeutete auf lange Sicht eigentlich nur, dass wir auf unserem Eis keine Blaubeeren mehr vorfanden.
    Smog, das hieß, dass unsere Eltern uns in dem Sommer vor unserer Einschulung am Wochenende mal zur Abwechslung nicht an die Ostsee karrten, sondern uns stattdessen im Stadtpark auf der Wiese parkten, weil das Auto stehenbleiben musste.
    Das merkwürdige Wort »Raff« bedeutete, dass wochenlang so viel Tagesschau wie möglich geguckt werden musste und man dabei keinen einzigen Piep von sich geben durfte.
    »Kalter Krieg« bedeutete gar nichts. Außer, dass alle sehr, sehr besorgt dreinschauten. Und viel öfter seufzten als sonst. Es gäbe Männer, hatte mein Vater mir anfangs noch versucht zu erklären, die hätten Mittel und Wege, die ganze Welt und alle Menschen in die Luft zu jagen. Mehrmals sogar. Niemand wäre dann mehr da. Doppelt und dreifach wären alle weg. Meine Mutter verbot meinem Vater, mir das mit dem atomaren Overkill noch einmal zu erklären. Ich könnte Alpträume bekommen.
    Ich bekam keine Alpträume. Ich bekam ein Pumucklrad. Und ich durfte mit Martin und seiner Mutter zum Rolf-Zuckowski-Konzert gehen. Die große Welt blieb draußen. Drinnen bei uns war alles gut.
     
    An der Kommode auf dem Klo in unserer Wohnung hing jetzt ein gelber Sticker mit einer lustigen, roten Sonne drauf. Nach einiger Zeit hatte ich es geschafft, den Schriftzug mit meinen Patschefingern Buchstabe für Buchstabe entlangfahrend zu entschlüsseln. »Atomkraft? Nein danke.« Das Sonnengesicht war nicht nur fröhlich, sondern offensichtlich auch sehr höflich. Nein danke, ja bitte, das versuchten uns die Erwachsenen schließlich auch immer beizubringen. Die lachende Sonne wurde in dieser Hinsicht mein Vorbild.
    Ich pulte sämtliche Aufkleber von sämtlichen Spüliflaschen ab und pappte sie neben die Sonne. Ein Lachgesicht zwischen vielen grünen Fröschen. Das sah schön aus.
    Irgendwann bekam mein Vater von irgendeinem alten Bekannten eine riesige blaue Fahne geschenkt. Auf ihr war in Weiß der Umriss einer fliegenden Taube zu sehen. Abend für Abend trat mein Vater auf den Balkon unserer Wohnung und schwenkte die Fahne durch die Luft. Es war seine Art zu versuchen, die echten Tauben, die hartnäckig auf unserem Dach nisteten, zu vertreiben. »Pace, pace! Peace!«, brüllte mein Vater hinter ihnen her, wenn sie in alle Himmelsrichtungen davonflogen. Und freute sich jedes Mal wie ein Kind, wenn ich dazu begeistert Applaus klatschte.
    Später, zum Einschlafen, las mein Papa mit mir im Hochbett in abwechselnden Rollen Asterix-und-Obelix-Hefte. Nur bei unserer Lieblingsstelle bildeten wir einen Chor. »Beim Teutates! Solange uns nicht der Himmel auf den Kopf fällt, haben wir keine Angst!«, brüllten wir so laut wir konnten.
    Weder der Himmel noch die Atombombe und auch nicht der böse Komet, den unsere Grundschullehrerin Frau Turm irgendwann einmal mit großen Augen angekündigt hatte, fielen auf die Erde und unsere Köpfe. Alles blieb friedlich. Wider Erwarten überlebten wir die Grundschule.
     
    Auf dem Gymnasium hieß meine beste Freundin Aileen. Aileens Vater kannte sich mit Computern aus. Sie hatte deshalb sogar Internet, als Allererste von allen. Und damit auch eine eigene e‑Mail-Adresse, für die sie mich auserkoren hatte, sie gemeinsam mit ihr einzurichten. Aileens Vater stand bei dieser hochspannenden Angelegenheit daneben. Er passte auf. Wir dürften bloß keine vollständigen Wörter nehmen, warnte er uns, während der Star-Trek-artige Modemkasten sich unter ohrenbetäubendem Gerausche und Gegurgel ins sogenannte World Wide Web einwählte. Alles Persönliche müsse um Himmels willen so kryptisch wie möglich verschlüsselt werden, rief Aileens Vater durch den Lärm, man würde uns sonst »hacken«! Wir rollten mit den Augen. »Nehmt was ganz Harmloses, Happy oder Sun oder so! Auf jeden Fall irgendwas Englisches«, drängte er uns. »Willkommen«, sagte die Dame von AOL freundlich.
    Nach langem Hin und Her ließ Aileens Vater unseren unpersönlichen Geheimcode, AJP 222fun, als einigermaßen sichere e‑Mail-Adresse zu. Mit ihr konnten wir von nun an nachmittagelang ungehackt vor dem Computer hängen. Tetris spielen war gestern. Wir surften jetzt. Nur deutsche Chatrooms blieben dabei – aus Sicherheitsgründen – tabu. Unsere wahre Identität musste schließlich geschützt und die Mörder und Perversen, die Aileens Vater verdächtigte,
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