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Wir haben keine Angst

Wir haben keine Angst

Titel: Wir haben keine Angst
Autoren: Pauer Nina
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aber – natürlich – harmlos.
    Am 30. Dezember wurde Aileen achtzehn. Die Feiern zu ihrer Volljährigkeit und zum neuen Jahrtausend sollten einen Tag später zusammen steigen. Es sollte eine coole Party werden, die trotz der Anwesenheit ihrer Eltern ins Wilde ausarten dürfe, so war die inoffizielle Ansage. Denn Aileens Eltern waren wie alle unsere Mütter und Väter in solchen Dingen am Ende eigentlich ziemlich entspannt.
    Doch an den letzten Tagen des alten Jahrtausends galten offensichtlich andere Regeln als sonst. Wer bei Aileens Party nach dem Flaschendrehen noch heimlich weiterknutschen wollte, musste erst einmal einen Verbotsparcour an Schildern, die Aileens Vater an die Zimmertüren gepinnt hatte, überwinden. Die Speisekammer war tabu, denn dort standen ja die Essensvorräte für den Untergang bereit. Dasselbe galt für den Balkon. Und fürs Arbeitszimmer.
    Die größte Sperrzone aber war das Badezimmer. »Zutritt verboten!!!«, stand auf einem Din-A4-Papier an der Tür. Aileens Vater hatte diese schlichte Beamtendeutsch-Ansage zwar etwas für die jungen Leute aufzupeppen versucht, indem er WordArt bemüht hatte. Ein spaciger Schatten stand hinter jedem der regenbogenfarbenen Buchstaben, die Worte bildeten einen dynamischen Halbkreis. Aber leider wirkte es alles andere als peppig. Es wirkte ultra-krampfig. Und es konnte nur schiefgehen.
    Bereits am Nachmittag hatte Aileens Vater die Badewanne bis zum Anschlag mit Wasser volllaufen lassen. Sollte die Apokalypse um Mitternacht schlagartig den Beginn des Jüngsten Tages der Menschheitsgeschichte einläuten, könnte man auf diese Weise immerhin noch mit einem Glas Badewannenwasser anstoßen, bevor alle dem Verderb entgegenschreiten würden.
    Entgegen allen Befürchtungen stießen wir um zwölf stinknormal mit Sekt an. Dir Katastrophe blieb aus. Zumindest die große. Maurice und Kathi, denen der Sekt zu Kopf gestiegen war, hatten die Verbotsschilder ignoriert und kurzerhand das Bad besetzt. »Mach das Licht aus«, hatte Kathi Maurice vielsagend zugeraunt, weil sie am Tag zuvor in der Fotolovestory gelesen hatte, dass es so romantischer wäre. Die beiden waren bei ihren immer wilder werdenden Heavy-Petting-Aktionen kopfüber in der Badewanne gelandet. Mit der Romantik war es schlagartig vorbei. Genau wie mit der Geduld von Aileens Vater. Unsere Party war gelaufen.
    Erst nachdem die ersten Stunden des Millenniums ruhig ins Land gegangen waren, durfte Aileen am zweiten Tag ihres neuen Lebensjahres wieder in einer leeren Badewanne duschen. Und sie durfte sogar die Glückwünsche, die unsere neuen Freunde aus Florida und New York ihr per e-Card geschickt hatten, abrufen. Denn einmal mehr war rein gar nix passiert. Und irgendwie hatten wir es fast geahnt.
    Für uns war der Jahrtausendjahreswechsel eigentlich nur ein Anlass gewesen, einmal richtig auszumisten. Die peinlichen alten Maxi- CD s von Ace of Base und der Kelly Family wanderten in die Kiste für den Flohmarkt, in der schon die gesammelten Pop/Rocky-Ausgaben der letzten Jahre vergilbten. Die Nick-Carter-Poster verschwanden von den Wänden. Wir gingen jetzt aufs Coldplay-Konzert.
    Und wir weigerten uns, gemeinsam mit Aileens Eltern und ihrer kleinen Schwester gegen den gehorteten Konservenbüchsenberg anzuessen. Nicht nur, weil wir wegen unserer ersten Diät gerade nur noch Reiskekse, rohe Karotten und Philadelphia Magerstufe aßen. Die Ängstlichen sollten ihre Paranoia-Suppe schön alleine auslöffeln.
    Wir, wir hatten keine Angst.
     
    Die folgenden Jahre plätscherten so dahin. Wir machten unsere Führerscheine und Abiture, wir verliebten und trennten uns zum ersten Mal. Wir korrigierten die Verweigerungsschreiben der Jungs für den Zivi und fingen an, Germanistik oder irgendetwas mit Medien zu studieren.
    Mit der Welt ging es nebenher fröhlich weiter den Bach runter. Die Apokalypsen grüßten in regelmäßigen Abständen. Doch von all den vermeintlich großen Zerstörern, die die Jahre brachten, sind uns nur die Namen im Gedächtnis geblieben. Mal hießen sie internationaler Terrorismus und Finanzkrise, dann Linkspartei, H1N1, Dioxin, studi VZ und Facebook, später Vogel- oder Schweinegrippe. Am Ende hat keiner von ihnen uns auch nur ein Haar gekrümmt. Niemand hat uns in die Luft gesprengt. Das Internet hat ebenso wenig unsere Seelen gestohlen, wie unsere Körper von mutierten Viren dahingerafft worden sind. Und aus dem EC -Automat kamen immer noch ein paar Scheine.
    Noch bevor der erste Experte
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