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Wir haben keine Angst

Wir haben keine Angst

Titel: Wir haben keine Angst
Autoren: Pauer Nina
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den Chat als ihr inoffizielles Forum zur Opferrekrutierung zu missbrauchen, perfide auf die falsche Fährte gelenkt werden.
    Unseren ersten Englischkenntnissen wird es sicher nicht geschadet haben, dass wir uns deshalb statt in den deutschen also in den amerikanischen Akte-X-Fanchats herumtrieben. Ob die anderen Teenies aus Florida oder New York uns wirklich glaubten, wenn wir uns, weil Aileens Vater das so wollte, als Amerikanerinnen ausgaben, war dabei egal. Es ging allein um die Wahrheit, die irgendwo dort draußen war. Und darum, wann Scully und Mulder sich endlich, endlich küssen würden. Der amerikanische X‑Files-Chat war allerdings unser letzter Kompromiss. Wenn uns Aileens Vater auch dort noch mit seiner Paranoia oder den Mahnungen, es werde langsam zu teuer, zu sehr auf den Wecker ging, drehten wir kurzerhand das neue Prinzen-Album auf volle Lautstärke. Unmissverständlicher, so wussten wir, kann man niemanden aus seinem eigenen Arbeitszimmer werfen. Unsere Pubertät nahm friedlich ihren Lauf.
     
    Nach ein paar Jahren mussten wir uns in der Aula unserer Schule versammeln. Ein Diavortrag. Zur Aufklärung gegen die vermeintlich heranrollende Panikwelle, die natürlich mal wieder niemand außer dem Lehrer kommen sah.
    Wir fanden die Vorstellung wahnsinnig gewordener Kühe eigentlich weniger beunruhigend als ziemlich abgefahren. Die Frau vom Gesundheitsamt nicht. Mit einem kleinen Laserpointer unterstrich sie während ihres Vortrags hektisch die komplizierten medizinischen Abkürzungen der Infographiken, die ihr Projektor an die Wand warf.
    Irgendjemand aus den höheren Klassen hatte sich vorbereitet. Auch er hatte einen Laserpointer mitgebracht. Ein zweiter roter Punkt pfuschte durch die Rinderstammbäume, tanzte auf den kranken DNS -Strängen, bis die Dame sich verhaspelte und den Faden verlor. Penetrant verharrte der Punkt nun auf ihrer Nase. Sie räusperte sich, versuchte, zuerst den Punkt wie eine Fliege in der Luft und nebenbei auch sich selbst zu fangen. Große rote Flecken erschienen an ihrem Hals. »Sind Sie infiziert?«, rief jemand aus der letzten Reihe. Das gesamte Schülerpublikum lachte sich tot.
    »Ich bitte euch ernsthaft, jetzt zuzuhören«, brüllte unser Direktor, der der Vortragenden zu Hilfe eilte. Er blinzelte in den Diaprojektor, der weißes Licht auf seine feuchte Glatze warf. Er schwitzte stark. Auf seiner Stirn erschien der rote Laserpunkt. »Mit Creutzfeldt-Jakob ist echt nicht zu spaßen, Leute«, rief er böse. Der Schweiß lief ihm von seiner gekräuselten, nassen Stirn, auf der fröhlich der rote Punkt tanzte, in die Augen. Sein Blinzeln wurde heftiger. Es sah unglaublich lächerlich aus.
    Unsere Eltern fanden die Geschichte nicht so komisch wie wir. Es würde vorläufig keine Gummibärchen mehr geben, kündigten sie mit Grabesstimme an. Da könne Thomas Gottschalk noch so nett aus der Werbung lachen. Auch Steak werde uns bis auf Weiteres nicht mehr auf den Teller kommen. Und, um sämtlichen Fragen gleich vorzugreifen, nein, auch kein Corned Beef mehr im Labskaus. Nur die sauren Gurken dürften bleiben.
    Wir zuckten mit den Schultern. Wenn es denn weiter nichts war! Die zum Trost von unseren Müttern besorgten, etwas muffig schmeckenden gelatinefreien Gummibärchen aus dem Reformhaus konnten wir schließlich locker links liegen lassen. Am Kiosk in der großen Pause kauften wir uns einfach ein paar Colakracher mehr.
    »Sascha hat BSE !«, kreischten wir von nun an über unsere Mathehefte hinweg, unter denen die
Bravo
versteckt war, wenn einer von den Jungs mitten im Unterricht mal wieder austickte. Ansonsten blieb die Welt wieder einmal genau so, wie sie vorher war. Die Trennung von Take That hatten wir langsam, aber sicher überwunden. Philipp war angeblich in Anna verknallt. Die nächste Klassenreise sollte nach Sylt gehen.
     
    1999, das Jahr mit der Schnapszahl, neigte sich dem Ende zu. Doch bevor es ganz zu Ende war, gegen Mitte November, begann Aileens Vater, Konserven zu kaufen. Viele Konserven. Man könne nie wissen, erklärte er uns, was bei diesem Jahrtausendwechsel passieren würde. Y2K, so hieß seine Apokalypse dieses Mal. Das war keine weitere wohlverschlüsselte e-Mail-Adresse, sondern ein extrem böser Computervirus, der die ganze Welt lahmlegen würde, genauer gesagt am 31. Dezember, um Punkt Mitternacht. Auch in den Nachrichten kam es dann irgendwann: The Millennium Bug, so nannten sie das Unheil. Wir stellten uns darunter einen großen Käfer vor. Glubschig,
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