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Eine eigene Frau

Eine eigene Frau

Titel: Eine eigene Frau
Autoren: L Lander
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Saida, 7
    Vartsala, Juli 1903
    Saida Harjula war ein siebenjähriges Mädchen, als sich im Jahr 1903 bei einer Versammlung in Forssa die Finnische Sozialdemokratische Partei, die bis dahin Arbeiterpartei geheißen hatte, konstituierte. In Saidas Elternhaus wurde zu jener Zeit freilich nicht über Politik geredet, denn als Mann Gottes wusste Saidas Vater Herman Harjula, dass dem Herrn alles Politisieren ein Gräuel war.
    Saidas Mutter Emma stammte als geborene Malmberg gewissermaßen aus besseren, finnlandschwedischen Verhältnissen. Ihr Vater arbeitete auf dem Rittergut Joensuu als Gärtner und ihre Mutter im dazugehörigen Herrenhaus als Köchin. Zweifellos waren die Eltern insgeheim enttäuscht darüber, dass die jüngste ihrer fünf am Leben gebliebenen Töchter einen finnischsprachigen Dreher zum Mann genommen hatte. Aber es war nichts zu machen gewesen, als jener Herman Harjula eines Samstagabends im Frühling im gut sitzenden zweireihigen Anzug und mit hellem Hut zum geselligen Beisammensein des Personals im Herrenhaus Joensuu erschien und, begleitet von der Gitarre, mit seinem schönen Tenor von den Salbungen des Geistes sang. Den Frauen in der ersten Reihe wehte Doktor Hornbergs »frisches und feines« Haarwasser in die Nase, denn Herman hatte versucht, sein von Natur aus lockiges, widerspenstiges Haar zu bändigen, ohne dass es ihm freilich voll und ganz gelungen wäre.
    Kaum sah sie die funkelnden Augen und das männliche Grübchen im Kinn des jungen Predigers, erfuhr Emma im Nu eine starke Berührung durch den Heiligen Geist. Sie wurde eine jener Seelen, von denen die Kirchlichen Nachrichten freudig vermeldeten: »In mehreren Gemeinden Südwestfinnlands geht derzeit vor allem unter der Jugend die Gnade der Suche nach dem Herrn um, und zwar mit einer Kraft, dass viele von ihnen inzwischen den Weg der Sünde verlassen und zum Herrn zurückgefunden haben, um Barmherzigkeit und Vergebung zu erlangen.«
    Herman Harjula war vollkommen davon überzeugt, dass es der Finger Gottes war, der ihm den Weg zum Herrenhaus Joensuu gewiesen hatte. Als Werkzeug hatte sich Gott einer Zeitungsanzeige bedient. In der Zeitung Der Pflug war die Stelle eines Drehers annonciert gewesen, und Herman suchte Arbeit. Bloß vom Predigen ernährte man keine Familie, und eine Familie wollte er. Vor allem eine Frau. Noch mit 26 war er Jüngling, da er seinem Glauben gemäß nicht in Sünde geschwelgt hatte. Allerdings war ihm aufgefallen, dass sich nicht alle Glaubensbrüder so untadelig verhielten, und deren wechselnde Glaubensschwestern legten auch Herman gegenüber mitunter Gewogenheit an den Tag, doch er machte sich nichts aus den Resten, die andere fallen ließen. Eine eigene Frau sollte es sein.
    Auch war ihm nicht irgendeine gut genug. Sein Vater Ivar Harjula, den er über die Maßen achtete, trotz dessen Neigung zum Alkohol und sporadischer Gewalttätigkeit, hatte sehr deutlich verlauten lassen, was für eine Schwiegertochter er sich für seinen Erstgeborenen wünschte. Sie sollte in erster Linie hochgewachsen sein, damit die Durchschnittsgröße der Sippe sich nach oben entwickelte.
    Die Harjulas waren ein schönes, aber ziemlich kurzgewachsenes Geschlecht. Insbesondere die Ältesten in der Familie wurden ziemlich verwöhnt und gemästet, wenn nicht genau über den Speisezettel Buch geführt wurde. Die Männer achteten besser auf ihre Verfassung und lebten fast immer länger als ihre Frauen, oft beerdigten sie sogar noch eine zweite Gattin. Die Frauen der Familie schienen eine nach der anderen von einer gewissen Nervosität, ja Hysterie, wenn nicht gar Wahnsinn geplagt zu werden. Nach Ivar Harjulas Einschätzung rührte dies vom Jahrhunderte währenden Überkreuzheiraten in den abgelegenen Dörfern, was eigentlich noch eine geschönte Umschreibung für die in der Bibel verbotene Inzucht war. Kinder kamen in der Sippe viele zur Welt, da die robusten Harjula-Männer auf die in der Heiligen Schrift verlangte Weise ihren Samen aussäten. Für die Verbesserung des Stammbaums und im Sinne der Blutauffrischung war es Ivar Harjulas Ansicht nach gut, dass sein ältester Sohn auf Predigtreise ging und seinen Samen in weiterem Umkreis verbreitete als nur in den wenigen Dörfern der Region Ober-Savo. Der Religion an sich maß Ivar Harjula so gut wie keinen Wert bei, auch wenn er gern laut Geschichten aus dem Alten Testament vorlas, von der Hure von Babylon, vom Treiben in Sodom und Gomorra und von den Schwestern, die sich mit den jungen
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