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Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Titel: Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
Autoren: Brian Ruckley
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Morgen bildeten sie eine Einheit; sie waren der Wille des Ortes, der Wille von Dyrkynon. Im Hintergrund, fast außer Reichweite seines scharfen Gehörs, erklang ein rhythmischer Singsang. Er hatte ihn noch nie vernommen, aber er wusste, was er zu bedeuten hatte: Es war ein Wahrheitsgesang, entlehnt von den Reiher-Kyrinin. Sie suchten Weisheit.
    »Setz dich!«, sagte jemand.
    Er nahm mit überkreuzten Beinen auf dem Boden Platz und richtete den Blick starr auf die Feuergrube.
    »Wir haben die ganze Nacht hier zugebracht«, sagte ein anderer, »um über diese Angelegenheit nachzudenken.«
    Der Junge nickte und presste die Lippen fest zusammen.
    »Es ist eine schwere Pflicht«, fuhr der zweite Sprecher fort, »und eine traurige Last, hier zusammenzutreten und ein Urteil zu fällen. Dyrkyrnon ist ein Zufluchtsort, offen für alle unseresgleichen, die draußen in der Welt weder Frieden noch Sicherheit finden können. Und doch haben wir uns diesmal versammelt, Aeglyss, um zu beraten, ob wir dich aus unserer Gemeinschaft ausschließen und von hier fortschicken sollen.«
    Aeglyss schwieg. Sein Gesicht blieb teilnahmslos, sein Blick unbewegt.
    »Wir nahmen dich auf und sorgten für dein Wohl. Du wärst an der Seite deiner Mutter gestorben, wenn man dich nicht gefunden und hierhergebracht hätte. Dennoch hast du Zwietracht gesät. Du hast unsere Freundschaft und unser Vertrauen mit Grausamkeit vergolten. Dyrkyrnon leidet nun unter deiner Anwesenheit. Deshalb wirst du diesen Ort verlassen, Aeglyss, und mit keinem seiner Bewohner mehr Umgang pflegen. Wir verstoßen dich aus unserer Mitte.«
    Zum ersten Mal zeigte sich eine Regung in den Zügen des Jungen, ein leichtes Zittern des Kinns, ein Zucken der Mundwinkel. Er schloss die Augen. Der beißende Torfqualm, der in der Luft hing, stieg ihm in die Nase und kratzte ihn plötzlich im Hals.
    »Du bist jung, Aeglyss«, sagte die Stimme jenseits des glimmenden Feuers nun ein wenig sanfter. »Vielleicht lehren dich die Jahre, was wir dir beizubringen versäumten. Sollte das der Fall sein, dann werden wir dich wieder mit offenen Armen aufnehmen.«
    Er starrte in die halb erleuchteten Gesichter, eine kalte Wut im Blick.
    »Du kamst aus einem Sturm zu uns«, meinte eine Frau, »und du trägst diesen Sturm in dir. Unsere Kräfte reichen nicht aus, ihn zu zähmen. Er ist zu tief verwurzelt. Wenn du ihn verdrängt oder gemeistert hast, kehr zu uns zurück. Das Urteil kann aufgehoben werden. Du gehörst hierher.«
    Er lachte auf, als er diese Worte hörte, ein harter, unvermittelter Laut in der Stille. Tränen schossen ihm in die Augen. Sie liefen ihm über die Wangen, ohne seine Stimme zu erreichen.
    »Ich gehöre nirgendwohin«, murmelte er und richtete sich auf. »Nicht hierher und deshalb nirgendwohin. Ihr habt Angst vor mir, obwohl ihr mich besser verstehen müsstet als alle anderen. Ihr redet von Freundschaft und Vertrauen, aber ich lese nichts als Zweifel und Furcht in euren Gesichtern. Mir wird schlecht vom Gestank eurer Angst.« Er spuckte in die Glut. Mit einem leisen Zischen wirbelte Asche auf.
    Aeglyss musterte die Gestalten im Halbkreis, versuchte jemanden im Dunkel der Hütte zu erkennen. »K’rina, du bist hier! Ich spüre dich. Wendest auch du dich von mir ab?«
    »Schweig, K’rina!«, befahl jemand.
    »Ja, schweig!«, fauchte Aeglyss. »Tu, was sie dir sagen! So seid ihr hier, alle! Immer leisetreten, immer leise! Nur keinen Staub aufwirbeln! Du hast versprochen, mich zu lieben, K’rina, den Platz meiner toten Mutter einzunehmen. Ist das deine Liebe?«
    Niemand antwortete ihm.
    »Ich habe dich geliebt, K’rina. Geliebt!« Er spie das Wort aus, als wäre es Gift auf seiner Zunge. Er konnte durch den Tränenschleier nichts mehr erkennen.
    »Ich wollte doch nur …« Die Worte blieben ihm im Hals stecken. Er atmete tief durch. »Das ist nicht gerecht. Was habe ich denn getan? Nichts, das nicht auch ein anderer tun könnte. Nichts.«
    Die Schattengestalten schwiegen. Ihr unerbittlicher Wille lag wie eine Mauer zwischen ihm und ihnen. Aeglyss würgte einen Fluch hervor, ehe er sich abwandte und ins Freie trat.
    Nachdem er gegangen war, herrschte lange Zeit Schweigen. Von irgendwo aus den Schatten drang ein Schluchzen, zunächst fast unhörbar, dann immer lauter.
    »Er ist es nicht wert, dass du um ihn trauerst, K’rina.«
    »Er ist mein Ziehsohn«, stammelte die Frau.
    »Nicht mehr. Und das ist gut so. In seinem Wesen liegen zu viel Wildheit und zu viel Grausamkeit. Wir
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