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Winterreise

Winterreise

Titel: Winterreise
Autoren: Gerhard Roth
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zusammensetzte, die er gesehen hatte. Er träumte von den Matrosen und Orangen, vom Zeppelin und vom alten Pferd, das in seinem Traum ein Schimmel war und sprechen konnte.
12
    Am Abend trieb es ihn wieder auf die Straße. Seine Nase schmerzte mehr als zuvor, ein Auge war geschwollen und seine Gedanken waren unklar vom Wein, den er getrunken hatte. Er hatte sich im Spiegel gesehen und bemerkt, wie der Schmerz ihm das Gefühl gab, nichts verlieren zu können.
     
    Anna blieb vor einem Hutgeschäft stehen und wollte einen Hut mit einem schwarzen Schleier, und Nagl ging in das Geschäft und kaufte ihn. Anna sah jetzt aus wie eine Witwe. Sie wollte auch in eine Kirche gehen, aber die Kirche war versperrt. Überall in den Gassen leuchteten die Marienschreine. Ein dicker Mann mit einer kleinen Krawatte ging mit seinem Sessel spazieren wie mit einem Spazierstock. In einem Geschäft für Heiligenbilder schlief ein Mann auf einem Stuhl und sah aus wie tot. Alles hupte, schrie und lärmte. Ein Rindermaul lag auf Grünzeug, Schweinshäute hingen von Fleischerhaken, in einer Auslage bügelte eine junge Frau ein Hemd.
    Langsam wurde es Nacht. Der Vesuv lag im Dunkeln. An der Straßenecke verkaufte ein Mann Tintenfischsuppe. Ein abgehackter Arm schwamm in einer roten Brühe, die Brühe wurde ausgetrunken und der Arm mit den dicken Saugnäpfen aus dem Glas gesogen. Er sah Anna zu, wie sie mit dem Witwenhut den Tintenfischarm aus dem Glas saugte, mit einer Hand hielt sie den Schleier über der Stirn. Plötzlich fiel ihr ein, daß sie die Blumen in dem Hotel vergessen hatte, in dem sie am Vormittag gewesen waren. Nagl mußte wieder an den Vesuv denken, er trank die Brühe, und der Tintenfischarm verschwand in seinem Mund. Er trat auf die Piazza Garibaldi und spürte den Wind. Der Schleier von Annas Hut wurde vom Wind an ihr Gesicht gepreßt. Die Piazza lag im Halbdunkel. Die Häuser rundherum sahen dottergelb und wie alte Verwaltungsgebäude aus. Aber der Himmel über der Piazza war groß, und Sterne blitzten auf ihm. Eine Weile gingen sie auf der Piazza spazieren, um den Wind zu spüren. Alte Möbel wurden auf der Straße verheizt, Menschen standen herum, wärmten sich, und Kinder spielten.
     
    Im Hotelzimmer verlangte er von Anna, daß sie sich ausziehen solle. Den Witwenhut sollte sie aufbehalten. Zuvor hatte er sich eine Flasche Wein bestellt. »Zieh dich aus und schau mich an«, sagte er. Sie stand nackt da, mit dem schwarzen Hut auf dem Kopf und dem Schleier vor dem Gesicht. Er sagte ihr, daß sie sich umdrehen, nach vorne beugen und die Beine spreizen solle. Der Hut lag auf dem Nachtkästchen. Sie machte es. Dann kam sie zu ihm ins Bett.
13
    Am nächsten Tag kaufte Nagl einen Regenschirm und eine Flasche Grappa. Er ging ins Hotel zurück und weckte Anna. Seine Nase schmerzte ihn nur noch, wenn er sie berührte, und er nahm sich vor, sie nicht zu berühren. Auf der Straße trug ein Piccolo zwei Kaffeetassen und zwei Glas Wasser auf einem Tablett unter einem verbogenen Schirm. Ab und zu blitzte es, und aus der Ferne war das leise Grollen des Donners zu hören. Er ging in das Badezimmer, zog den Vorhang hinter sich zu und trank aus einem Zahnputzglas einen Schluck Grappa. Die Grappa war so scharf, daß es ihn würgte, aber sie wärmte seinen Magen.
     
    Sie gingen an den leeren Ristorantes mit den weiß gedeckten Tischen und den umgestellten Gläsern vorbei, von denen unter Leinendächern und Vorbauten kleine Gruppen von Männern standen, die sich unterstellten, rauchten und warteten. Sie sahen sich nicht an, sondern blickten auf die verregnete Piazza, von der lehmiges Wasser die Straßen hinunterlief. Über den Sessel eines Schuhputzers war eine Gummiplane geworfen, die Stände waren abgeräumt, Kellner servierten den Menschen auf der Straße aus den umliegenden Cafes Aperitifs. Im U-Bahn-Schacht roch es nach Chlor. Sie schoben sich durch das Gewühl regennasser Menschen, drängten sich in die Bahn und klammerten sich an Eisenstangen, während sie rüttelnd dahinraste. Nagl stand da wie betäubt. Er erlebte die Augenblicke so stark, aber er erlebte sie nicht mit klarem Kopf. Alles ging ihm durcheinander. Es ekelte ihn jetzt davor, zurückzudenken. Er wollte auch nicht daran denken, was kommen würde. Er würde nicht länger in Neapel bleiben, wenn er seine Unrast verlor. Anna war an ein Fenster getreten und hatte ein Sehloch in die angelaufene Scheibe gewischt, durch das sie hinausschaute. Nagl wollte nicht hinaussehen. Er
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