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Winterreise

Winterreise

Titel: Winterreise
Autoren: Gerhard Roth
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wollte Anna in der Bahn lieben auf einem Berg zusammengefalteter Regenschirme, er wollte mit dem weißen Pferd im Zeppelin über den Hafen fliegen, er wollte, daß sein Körper seinen Gedanken folgen konnte; daß alles möglich war, was er sich denken konnte. Auf einem der Sitze lag eine Zeitung, aber niemand kam, der in der überfüllten Bahn den Platz für sich besetzt hätte. Also fragte Nagl die Frau, die daneben saß. Die Frau rutschte zur Seite, drückte ihm die Zeitung in die Hand und forderte ihn ungehalten auf zu lesen. Er saß mit der italienischen Zeitung, die er nicht lesen konnte, in der Bahn, und Anna blickte durch das Guckloch in der angelaufenen Scheibe, bis sie an der Station Villa del Misteri vor Orangenhainen ausstiegen.
14
     
    In einer Trattoria trank er im Stehen eine große Grappa. Er fühlte sich erlöst, wenn er spürte, wie der Alkohol wirkte. Der schönste Moment war, wenn ein großer Finger ihn im Kopf berührte und ihn benommen machte. Er spürte, wie sein Herz sich öffnete, wie er er selbst und unverletzlicher wurde. Wegen dieser Unverletzlichkeit trank er, auch wenn er am nächsten Tag verletzlicher war. Es hatte zu regnen aufgehört, und eine Schar Matrosen strömte aus den Ruinen der Häuser und verschwand in ihnen. Sie hatten dieselbe Uniform, wie die beiden, die ihn verprügelt hatten. Nagl ging mit dem zusammengefalteten Regenschirm wie mit einem abgebrochenen schwarzen Flügel. Er dachte, daß auch die Wächter und die Touristen mit ihren zusammengefalteten Regenschirmen wie Vögel mit abgebrochenen Flügeln dastanden und über die Steine hüpften. Die Matrosen fotografierten sich vor den Torbögen und gingen in ihren Uniformen in ein Ristorante zwischen den Trümmern, und Nagl wollte ihnen folgen. Er ging jedoch weiter, da Anna zu weinen begonnen hatte, aber er warf den Regenschirm über eine Mauer. Vor ihm lag der Vesuv, dunkelblau mit weißen Nebelstreifen, als sei er von Schnee bedeckt. Durch Gitter sah er in kleinen verwilderten Gärtchen zwischen Überresten von Häusern, Brunnen aus verwittertem Stein, Mosaike und Steintische. Erst jetzt bemerkte er, daß er allein war. Er drehte sich nach Anna um und sah sie hinter sich mit dem Schirm hergehen. Zwei Nonnen in Schwarz standen zwischen den bemoosten Säulen und studierten einen Plan. Als Anna zu ihm kam und sagte: »Bitte verstehe mich«, antwortete er: »Ich verstehe niemanden.«
     
    Es begann wieder zu regnen, und sie spannte den Regenschirm auf. »Früher warst du ein guter Mensch«, sagte sie plötzlich. »Um meine eigene Stärke zu spüren, war ich ein guter Mensch«, antwortete Nagl heftig, »um einen Triumph zu spüren.«
    Die Casa del Vetteri stürzte in seine Augen, Bilder an Wänden in tief aus dem Meer ans Tageslicht getauchten Farben. Farben aus Blütenstaub und aus dem Blut geschlachteter Ochsen, aus Luft und Blättern, Bilder, die so zart waren, als seien sie als Pflanzen gewachsen, als seien sie Gedanken aus einer Materie, die lebte. Menschen waren auf den Bildern zu sehen, nackte Kinder, Vögel, Schlangen, Langusten, Trauben, Hund und Hirsch, Pfaue, Säulen und Amphoren, sie waren ocker und braunrot, schwarz, olivgrün, kaminrot, blei- und emailfarben. Es war ein friedliches Reich. Es zeigte ihm eine unberührbare Würde, seine Schönheit und seine Gleichgültigkeit gegenüber der Zeit. Schirme raschelten, aber da war auch das Gezwitscher von Vögeln, es kam aus dem Garten der Villa, in den der Regen auf das Grün und die Statuen fiel, und Nagl erinnerte sich an die Vogelhandlung in der Marktstraße. Der Mann in der Eisenbahn fiel ihm ein, der seine Jacke durchsucht hatte, und das Meer. Er trat ganz nahe an die Wände heran, als wollte er sehen, daß die Bilder an den Wänden eine Natur waren, wie der Urwald, die Anden oder die Arktis. Ganz benommen stand Nagl davor, als ihn ein Wächter ansprach.
     
    Er sperrte ein Eisenkästchen auf, und da war in blassen Farben ein Mann mit einem mächtigen Schwanz zu sehen. Der Schwanz war größer als der Mann. Der Mann schien nicht zu leiden, aber auch keinen Genuß zu fühlen, er war nur da, um sich betrachten zu lassen. In einer dunklen Nische leuchteten farbige Schatten an der Wand. Frauen mit geöffneten Beinen unter Männern, Frauen, die auf Männern saßen, sich vor sie auf den Bauch gelegt hatten, ihr Glied hielten. Und jetzt fiel Nagl das Panoptikum ein, die farbigen Bilder fielen ihm ein, die er mit seinem Großvater gesehen hatte, und er dachte daran, wie
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